Um beurteilen zu können, wie es wirklich zuhause aussieht, sollte man gelegentlich in die Fremde reisen. Mit der Literatur verhält es sich ganz ähnlich. Um zu wissen, was man von der Gegenwartsliteratur zu halten hat, sollte man auch mal wieder einen Klassiker lesen. So habe ich es gehalten, und so geriet ich an Tschechows kleinen Roman „Das Duell“.
Schauplatz der Handlung ist das als recht öde beschriebene Abchasien im südlichen Kaukasus irgendwann im 19. Jahrhundert. Russische Soldaten, Beamte, Witwen, Ärzte – ein ganzer Querschnitt der provinziellen Gesellschaft – vertreiben sich ihre Tage mit Klatsch und Tratsch, Kartenspielen, Saufen, Tändeleien und Picknicks. Die Hauptperson Lajewski ist ein launischer, fauler Finanzbeamter, der seiner verblühenden Nadescha, einer verheirateten Frau, die ihrem Galan in den Kaukasus folgte, überdrüssig ist und der seine Flucht nach St. Petersburg plant. Lajewskis Antagonist ist der Naturwissenschaftler von Koren, der für Existenzen wie Lajewski nur Verachtung übrig hat und Gestalten wie ihn am liebsten „ausrotten“ würde. Die mit anregenden Beobachtungen und Aphorismen geschilderte Handlung findet ihren Höhepunkt in einem Duell zwischen Lajewski und von Koren, vor dem sich der feige Lajewski vor Angst fast in die Hosen macht, um anschließend eine innere Umkehr zu erleben, in deren Vollzug er seine Fluchtpläne aufgibt, seine Geliebte heiratet um anschließend mit ihr gemeinsam in den Prozess der menschlichen Vergammelung einzutreten. Von Koren entschwindet am Ende des Romans in einem Boot, Und man traut sich gar nicht, sich vorzustellen, was dieser betonharte Kerl alles noch anstellen wird.
Reizvoll an dem vorliegenden Roman fand ich die literarische Vorausahnung von Erscheinungen, die die Gesellschaftsgeschichte heute mitbestimmen. Lajewski repräsentiert den verantwortungslosen Leebemann, der sich im Privaten verliert und dessen menschliche Substanz so dürftig ist, dass er sofort verwelkt, wenn er sein Laster aufgibt. In trauriger weise zukunftsträchtig ist auch die Gestalt Nadeschas, die in ihrer ausschließlichen Orientierung auf Liebständel zur Schlampe wird. Von Koren erscheint als der Vor-Schein des fanatischen Intellektuellen, von dem in der Castorp Inszenierung von „Das Duell“ in Berlin sogar behauptet wurde, dass er der Prototyp des Nazis oder Kommunsten sei. Dass Lajewski und von Koren das Duell überleben, ist nur folgerichtig, denn sie sind aufeinander angewiesen. Ohne den entkernten Privatier, der nur seine Passionen im Kopf hat und dem die Anliegen des Gemeinwesens schnurzpiepegal sind, wäre der Sieg fanatischer Ideologien überhaupt nicht möglich. Wohlgemerkt, im Roman ist das nur zu ahnen, aber gerade der Vorschein von Psychologien, die in der Zukunft wirkungsmächtig sein werden, gehört zu den wertvollsten Leistungen der Literatur. Unnötig zu erwähnen, dass die Erzählweise Tschechows die Lektüre auch ohne diese bedeutungsschweren Überbau zu einem Vergnügen macht.