Es ist Mode geworden, nicht mehr nur die Geschichte von Völkern, sondern von geographischen Räumen zu beschreiben. Es gibt Bücher über die Donau, den Rhein, die Wolga und mittlerweile sogar über Seen, Meere und Ozeane. Ein Pionierwerk in dieser Richtung war das große Werk von Ferdinand Braudel „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II“. In diesem Werk geht Braudel der Frage nach, inwiefern nicht die Geschichte die Örtlichkeit, sondern die Örtlichkeit die Geschichte prägt.
Eine ähnliche Fragestellung verfolgt das Buch „Das Mittelmeer. Eine Biografie“ des Cambridge-Historikers David Abulafia, das man dem Werk von Braudel mit gutem Gewissen zu Seite stellen kann. Professor Abulafia beginnt seine „Biografie“ des Mittelmeeres mit einer Beleuchtung der geographischen Besonderheiten. Das Mittelmeer ist erdgeschichtlich jung, es entstand erst vor etwa 150 Millionen Jahren, als sich der afrikanische Kontinent nordwärts bewegte und gegen Europa stieß. Dabei umschlossen beide Kontinente ein Becken, das in der Folgezeit austrocknete. Millionen Jahre vergingen, bis das Mittelmeer vor 5,3 Millionen Jahren durch eine gigantische Sturzflut ein zweites Mal geboren wurde. Seitdem der homo sapiens auf der Erde erschienen ist, geht es ruhiger zu am Mittelmeer, fast zu ruhig, denn inzwischen ist das Mittelmeer zu einem „verdunstenden Meer“ geworden, weil es nur über wenige große Zuflüsse verfügt (im Unterschied zum Schwarzen oder zum Kaspischen Meer). Allein der Zufluss aus dem Atlantischen Ozean hält den Wasserhaushalt des Mittelmeers im Gleichgewicht. Diesem geografischen „Nachteil“ aber steht aus Abulafias Sicht ein bemerkenswerter „Vorteil“ gegenüber. Die Küsten des Mittelmeeres sind nicht so weit voneinander entfernt, dass die dazwischenliegenden Distanzen nicht überwunden werden können – sie sind aber auf der anderen Seite weit genug voneinander entfernt, um eigenständige Entwicklungen an den jeweiligen Küsten zu erlauben. Aus dieser Ambivalenz ergaben sich innerhalb geschichtlicher Zeiten Spannungen und Turbulenzen eines Raumes, der mehr als jeder andere auf unseren Planeten die Weltgeschichte beeinflusste
Realgeschichtlich durchgliedert der Autor die Geschichte des Mittelmeerraumes fünf große Epochen, wobei man über die Berechtigung der Periodisierung unterschiedlicher Meinung sein kann. Das erste mediterrane Zeitalter von 22000 vor bis 1000 vor der Zeitrechnung beschreibt den Mittelmeerraum als Ort der Zuwanderung und der kulturellen Verdichtung. Die Hochkulturen der Ägypter, Hethiter, Kreter, der Syrer und Minoer entstehen auf der Grundlage eines immer intensiveren Handelsaustausches. Am Ende zerstört der Ansturm der sogenannten Seevölker die erste bescheidene Blüte der mediterranen Welt.
Das zweite mediterrane Zeitalter reicht von 1000 v. Chr. bis zum Ende des römischen Reiches Es repräsentiert die „Glanzphase“ der mediterranen Welt, die Bühne, auf der nicht nur die griechische Weltkultur, sondern in Gestalt des Römischen Reiches auch eine politische Organisationsform entstand, die zum ersten und letzten Mal den ganzen Mittelmeerraum vereinigte. Das alles ist eigentlich nicht neu, neu aber ist der Aufweis, wie dicht gewebt die ökonomischen, religiösen und kulturellen Verflechtungen waren – womit man zum Hauptvorzug des Buches kommt: es überzeugt nicht nur in den großen Zügen, sondern auch in den erzählerischen Details, die anschaulich geschildert und immer auch in einen nachvollziehbaren Kontext gestellt werden.
Im dritten mediterranen Zeitalter zwischen 600-1350 unserer Zeitrechnung zerreißt die Einheit der Mittelmeerwelt. Dieses Zerreißen hatte vielfältige Gründe, von denen die Expansion des Islams der wichtigste war. Ihr Gegenstück war die Kreuzzugsbewegung, ebenso wie der Aufstieg der oberitalienischen Seestädte. Am Ende dieser Epoche scheinen sich die Gewichte verschoben zu haben. Im europäischen Hochmittelalter entstehen die großen Kathedralen, der Orient erstarrt unter der Herrschaft der von Türken und Mongolen.
Das vierte mediterrane Zeitalter, definiert als die Zeit von 1350 bis 1830, ist gleich von mehreren Triebkräften geprägt. Zunächst erschüttert die Entdeckung des atlantischen und indopazifischen Räume die ökonomische Schlüsselstellung des Mittelmeerraumes. Verzweifelt versuchen die venezianischen Kaufleute die Mamlucken Ägyptens gegen das portugiesische Gewürzmonopol in Stellung zu bringen. Sodann greift in Gestalt des osmanischen Reiches eine neue Weltmacht nach der Herrschaft über die ganze mediterrane Welt, was nur mit Mühe (Seeschlacht von Lepanto) abgewehrt werden kann. Spätestens ab dem 18. Jhdt. gewinnen die westlichen Mächte dann endgültig die Oberhand. Die Säuberung der nordafrikanischen Küste von den muslimischen Korsaren durch die Franzosen und das Streben des Zarenreiches nach den Dardanellen verdeutlichen diese Tendenzen.
Das fünfte mediterrane Zeitalter von 1830 bis heute zeigt so vielfältige Züge, dass sie kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Eindringlich verdeutlicht Abulafia etwa die Verheerungen, die der chauvinistische Nationalismus über die mediterrane Welt brachte am Beispiel der Stadt Smyrna. Der Etablierung der britischen und französischen Kolonien in der Levante folgt die Gegenbewegung in Gestalt der panarabischen Bewegung und des radikalen Islamismus. Schließlich, und das ist der beunruhigendste und aktuellste Aspekt der Geschichte des Mittelmeerraumes, wird das Mittelmeer zum Transfergebiet einer gewaltigen afrikanisch-orientalischen Massenmigration in die Komfortzone des Westens. Kaum etwas verdeutlicht besser das kuriose Doppelgeseicht der heutigen Mediterrane´ als die Ankunft eines Flüchtlingsboot mit lauter Afrikanern bei der Landung an einem belebten Touristenstrand.
In der Gegenwart angekommen, ist die „Biografie“ des Mittelmeerraumes natürlich nicht zu Ende. Zu Ende aber ist ihre weltgeschichtliche Bedeutung. Die mediterrane Welt ist im Vergleich zu den indopazifischen Räumen zu einem sekundären Schauplatz geworden, schreibt Abulafia. Mittlerweile spielt die Musik ganz woanders.