Unzählige Male ist die Geschichte der Entdeckungen bereits erzählt worden, mal rein narrativ, mal unter machtpolitischen, geografischen oder technischen Aspekten. Kann es da überhaupt noch etwas Neues geben? möchte man fragen. Ja, sagt Professor David Abulafia, Ordinarius der Geschichte an der Universität von Cambridge: die Weltgeschichte der Entdeckungen als eine Weltgeschichte der Ozeane.
David Abulafia, international bekannt geworden durch sein Buch „Das Mittelmeer. Eine Biografie“, erzählt die Weltgeschichte der Ozeane als die Geschichte die Verwandlung der maritimen Unendlichkeit in ein berechenbares System planbarer Wege. Zunächst geht es um die Inbesitznahme des Indischen, Pazifischen und Atlantischen Ozeans durch die Entdecker und Händler an den ozeanischen Küsten, dann um die Verbindung der Ozeane zu einem grenzenlosen Weltmeer.
Ein Vorzug dieser Perspektive ist der Abschied von der rein eurozentrischen Perspektive der Entdeckungsgeschichte. Bei der Erschließung des Indischen Ozeans etwa spielten lange vor den Portugiesen malaiische Einwanderer und Seefahrer, die von Indonesien nach Madagaskar zogen, eine Rolle – ebenso wie die iranischen und arabischen Händler, die auf ihren Dhaus den Indischen Ozean in Richtung Ostafrika überquerten. Sie waren angewiesen auf die Kenntnis von Monsunzeiten und wechselnden Windrichtungen, eine Erfahrung, die auch Vasco da Gama machen musste, als er sich 1498 von Indien aus mit „Gegenwind“ auf den Heimweg machte.
Die Geschichte des Pazifischen Ozeans beginnt mit den Entdeckungsreisen der Polynesier, Melanesier und Mikronesier. Ausgehend von Tonga, Fidschi und Samoa, dem sogenannten „pazifischen Dreieck“ erreichten die „pazifischen Argonauten“ in ihren umgebauten Kanuten die Marquesas und die Gesellschaftsinseln, dann Hawaii und Neuseeland, bis mit der Inbesitznahme auch entlegener Inseln wie Rapa Nui oder Pitcairn die Erkundung des Pazifiks endete. Erst viel später erschienen Magellan, Legazpi, Torres oder Cook.
Nicht anders verhielt es sich mit dem Atlantik, auf dem bereits lange vor Kolumbus eine lebhafte Küstenschifffahrt zwischen Nordafrika, England, Irland und Norwegen existierte. Die dabei gewonnenen nautischen Erkenntnisse trugen dazu bei, dass die Wikinger am Ende des 10. Jahrhunderts Island, Grönland und schließlich Nordamerika erreichten.
Innerhalb dieser Geschichte der drei Ozeane bietet das vorliegende Buch eine geradezu enzyklopädische Fülle von Details zur Entdeckungsgeschichte, wie man sie in dieser Dichte noch nicht gelesen hat. Ausführlich wird zum Beispiel der Handel der mesopotamischen Sumerer mit der Induskultur oder die Erkundung des Roten Meeres durch Ptolemaier und Römer beschrieben. Abulafia diskutiert die Wahrscheinlichkeit der Besiedlung Polynesiens vom südamerikanischen Kontinent her und die Hypothese von der Entdeckung Amerikas durch die Dschunkenflotten des chinesischen Admirals Cheng Ho, was er in beiden Fällen für ausgemachten Unsinn hält. Ein Vergleich der Warenvolumina der klassischen Seidenstraße mit dem Warentransport über das Meer zeigt, dass die sogenannte „Seidenstraße des Meeres“ von Alexandria über Melakka bis zur chinesischen Hafenmetropole Quanzhou in der Epoche der chinesischen Song Dynastie (960-1279) um ein Vielfaches bedeutsamer war als der Landverkehr.
So weit, so bemerkenswert. Was aber ist mit Kolumbus, Vasco da Gama und Magellan, um nur die drei bekanntesten europäischen Entdecker zu nennen? Ihre Bedeutung beruht für Abulafia nicht so sehr auf den von ihnen „entdeckten“ Gebieten, sondern darin, dass sie und ihre holländischen, britischen und französischen Nachfolger einen Prozess einleiteten, der die Verkehrswege der drei Ozeane nicht nur neu erschloss sondern zur planetarischen Einheit verband.
Am innovativsten, wenn auch langfristig nicht am erfolgreichsten, waren die Spanier, die ab 1570 mit der „Manila Galeone“ die erste stabile Welthandelsstruktur etablierten. Einmal im Jahr schickten sie von Acapulco in Mexiko aus eine Galeone voller Silber aus den Minen von Potosi und Taxco über den Pazifik nach Manila, um es gegen Gewürze von den Molukken oder Seide, Porzellan und andere Luxuswaren aus China einzutauschen. Manchmal nahm die Manila Galeone auf ihrem Rückweg auch zahlende Passagiere mit, wie etwa Giovanni Careri, der im Jahre 1697 nach seiner jahrelangen Reise von Venedig nach China mit der Manila Galeone den Pazifik überquerte und nach seiner anschließenden Atlantikpassage zum ersten „Touristen“ wurde, der die Welt mit jedermann zugänglichen Transportmitteln umrundet hatte. Ein Phileas Fogg der frühen Jahre.
Der Manila Galeone folgten bald andere transozeanische Handelsverflechtungen, die die Bedürfnisse unterschiedlicher Weltteile miteinander verbanden. So stimulierte die massenhafte Einfuhr von Tee aus China nach Großbritannien die Nachfrage nach Zucker aus der Karibik. Mais aus Südamerika und die Kartoffel aus Peru waren Voraussetzungen für das enorme chinesische Bevölkerungswachstum in der Epoche der chinesischen Mandschu-Dynastie (1644-1911).
Im 19. Jahrhundert beschleunigte sich der Prozess der transozeanischen Globalisierung. Weit abgelegene Territorien der kontinentalen Landmasse wurden durch Eisenbahnen mit den großen Häfen und damit den Ozeanen verbunden. Die Ablösung der Segelschifffahrt durch die Dampfschifffahrt revolutionierte Schnelligkeit und Sicherheit des Warenverkehrs. Die Verwirklichung der großen Kanalprojekte von Suez und Panama reduzierte die Entfernungen und machte sogar Weltreisen in überschaubaren Zeiträumen möglich. Nachdem im Jahre 1869 die transamerikanische Eisenbahn zwischen New York und San Francisco fertiggestellt und der Suezkanal eröffnet worden war, umrundete der Engländer Georg Francis Train schon im nächsten Jahr Welt in achtzig Tagen und wurden zum literarischen Vorbild für Jule Vernes Weltbestseller „Reise um die Welt in achtzig Tagen“ (1873).
Im zwanzigsten Jahrhundert kommt die Weltgeschichte der Ozeane durch den Siegeszug des Luftverkehrs und die Einführung der Containerschiffahrt an ihr Ende. „Die Küstenlinien sind heute bei Reisen zwischen Großbritannien oder Italien und den Vereinigten Staaten weitgehend irrelevant geworden“, vermerkt Abulafia. „Die klassischen Häfen vergangener Zeiten wurden von Containerterminals verdrängt, die meist keine Handelszentren mit einer bunten Vielfalt von Personen unterschiedlichster Herkunft mehr sind, sondern eher Fabriken gleichen, in denen Maschinen unablässig am Netz des internationalen Handels weben.“
Ist es ein happy-end? möchte man am Ende der Lektüre fragen. Abulafia bleibt diese Antwort schuldig. Er zeichnet nur einen Prozess nach, das allerdings extrem anschaulich und in opulenter Breite. Am Ende ist der Planet über die Erschließung seiner Ozeane zu einer Einheit geworden. Ob das den Ozeanen gut bekommen ist, ist eine andere Frage, die der Autor merkwürdigerweise nicht stellt.