Die Autoren Darim Acemoglu und James Robinson sind weltweit anerkannte Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, die bereits mit ihrem Werk „Warum Nationen scheitern“ einen Klassiker vorgelegt haben. Der besondere Vorzug von „Warum Nationen scheitern“ war der nahezu universelle Einbezug eines extrem weitgespannten geschichtlichen Verweisungshorizontes als Hintergrund und Basis der Argumentation. Genauso verfahren die Autoren auch in dem vorliegenden Buch „Gleichgewicht der Macht“, was die Lektüre ungemein anschaulich macht. Von altgermanischen Wotans über die kastilischen Cortes, von den der Reichsgründung von Medina bis zum Mandat des Himmels, von der Antike bis zur Gegenwart erstreckt sich das Feld, auf dem die Grundfrage des Buches immer aufs Neue durchbuchstabiert wird: die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit zwischen Anarchie und Despotismus.
Das Buch beginnt mit einer eindringlichen Veranschaulichung der Anarchie am Beispiel der nigerianischen Millionenstadt Lagos. Hier herrscht der Kampf aller gegen alle, bei dem die Freiheit des Individuums auf der Strecke bleibt. Natürlich darf auch Thomas Hobbes nicht fehlen, der Zeitgenosse des englischen Bürgerkrieges, der gegenüber dem Kampf aller gegen alle ein heikles Heilmittel empfahl: die Delegation der Gewalt an einen souveränen „Leviathan“, der als moderner Staat die Gesellschaft befriedet. Leider hat Hobbes nach Meinung der Autoren das Problem nur halb gelöst, denn so erfolgreich der Leviathan bei der Domestikation der gesellschaftlichen Gewalt auch verfuhr, entwickelte er sich bald selbst zum Problem. Er begann damit, die Gesellschaft auf der Grundlage seines Gewaltmonopols zu knechten und wurde zum „despotischen Leviathan“, in dem die Untertanen genauso wenig frei waren wie in der totalen Anarchie.
Das vorliegende Buch untersucht die Frage, welche Faktoren dieses Dilemma beeinflussen und welche Auswege es gibt. Es fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit eines sogenannten „gefesselten Leviathans“, in dem ein „Korridor der Freiheit“ möglich bleibt.
Ausgangspunkt der Überlegungen sind die Zustände in vorstaatlichen Gesellschaften, die keineswegs herrschaftsfrei waren. Denn jede Gesellschaft besitzt ein Normensystem, das intendiert, Gewaltexzesse einzudämmen, das aber als „Normenkäfig“ leicht die Freiheit des einzelnen beschneidet. Da es in anarchischen Gesellschaften um das pure Überleben geht, haben sich verschiedene Verhaltensweisen herausgebildet, dem Tod durch Anpassung an die Anarchie zu entgehen. Eine typische, in verschiedenen historischen Kontexten Aufweis bare Strategie besteht darin, sich einem „Patron“ freiwillig zu unterstellen, um Schutz zu erhalten. In diesem Tausch von Freiheit gegen Leben wurzelt beispielsweise die weitverbreitete Sklaverei in Afrika, ebenso wie das System der spätantiken Latifundien oder die Mafia in Sizilien.
Das Beispiel der griechischen Antike repräsentiert nach Meinung der Autoren eine erste, ansatzweise Lösung des Problems. Zunächst zeigen die Abenteuer, die der griechische Recke Theseus auf seiner Wanderung nach Athen zu bestehen hat, dass im vorklassischen Griechenland der Kampf aller gegen alle herrschte. Kein Refugium für edle Seelen. Auch innerhalb der griechischen Stadtstaaten (Poleis) herrschte der Naturzustand, weil große Teile der verarmten Bevölkerung in die Schuldknechtschaft abgesunken waren. Die Reformen des Solon repräsentierten den Versuch, durch neue staatliche Strukturen, die gesellschaftlichen Konfliktfelder zu lösen. Diese „Lösung“, d. h. die Etablierung einer ersten rudimentären Form der Gewalteiteilung und Partizipation, aber rief einen Mechanismus auf den Plan, der sich als grundlegelend erweisen sollte. Die Autoren nennen diesen Mechanismus den „Wettlauf der roten Königin“. Diese Metapher bezieht sich auf eine Episode aus „Alice im Wunderland“, als Alice mit einer roten Königin einen Wettlauf beginnt, ohne dass sie von der Stelle kommt. Am Ende ist sie gerannt, steht aber noch immer da, wo sie begann. Was Acemoglu und Robinson damit ausdrücken wollen ist der Umstand, dass die einmal entstandene Struktur des Staates sofort Gegenkräfte hervorruft, die ihr zu widerstehen versuchen. Es beginnt ein Wettstreit zwischen Staat und Gesellschaft um Bestimmungsmacht, bei dem es darauf ankommt, dass keine der beiden Seiten ins Hintertreffen gerät. So folgte auf die Reformen des Solon die Tyrannis des Peisistratos, in der die Staatstätigkeit ausgeweitet wurde. Sie wurde konterkariert durch die Ära des Perikles, der die partizipativen Elemente der attischen Demokratie stärkte. Niemals aber sind diese Gleichgewichtspunkte gesichert, immer wieder muss neu um ein Austarieren dieser Gewalten gerungen werden. Mit anderen Worten: der Wettlauf mit der roten Königin ist nie zu Ende.
Was geschieht, wenn dieser Wettlauf unterbleibt, verdeutlichen die Autoren an mehreren Beispielen, etwa anhand des Zulukönigs Shaka oder der Einigung der hawaiischen Inseln durch die Dynastie der Kamehameha. Die Einigung Hawaiis durch die überlegene Feuerkraft importierter amerikanischer Gewehre war zunächst einmal ein positiver Vorgang, weil er die Inselfehden beendete und politische Stabilität und wirtschaftliche Berechenbarkeit schuf. Ein „Korridor der Freiheit“ wurde sichtbar, der aber bald wieder verschwand, weil die Könige der Kamehameha-Dynastie damit begannen, sich auf der Grundlage der staatlichen Gewaltmittel wirtschaftlich zu bereichern. Sie etablierten Taburegeln auf den Handel mit profitablen Gütern, um diesen für sich zu monopolisieren. Als sich der Sandelholzhandel mit den USA als besonders lukrativ erwies, führten die Könige von Hawaii für ihre Untertanen Zwangsarbeit ein, später weiteten sie diese Zwangsarbeit auf die gesamte Landwirtschaft aus. Schließlich beschlossen sie eine Landreform, bei dir letztlich nur noch 1 % des Landes der normalen Bevölkerung verblieb.
Ein ganz anderes Bild bieten die italienischen Stadtstaaten der Früh- und Hochrenaissance. Überall entwickelte sich ein kompliziertes System der Machtbegrenzung und des Personenaustausches, das eine innergesellschaftliche Überwältigung durch den despotischen Leviathan verhindern sollte, ohne seine Leistungsfähigkeit nach außen einzuschränken. Als besonders positiv erwies sich, dass diese Selbstbegrenzung des Leviathan die soziale Mobilität innerhalb der Städte erhöhte und die Menschen zu Innovationen motivierte, weil sie sicher sein konnten, dass ihnen der Ertrag ihrer Arbeit nicht durch den Staat weggenommen werden durfte. Dergleichen „homo novi“ erfanden den Trockenwechsels, des Messewesen, die Handelsversicherung und die doppelte Buchführung, ganz abgesehen von der damit zusammenhängenden notwendigen Alphabetisierung weiter Kreise der Bevölkerung.
Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie und warum gerade Europa diesen „Korridor der Freiheit“ betrat. Die Antwort mag verblüffen: in Europa lagen aufgrund geschichtlicher Zufälligkeiten die beiden Komponenten einer „Schere“ vor, die den Weg zum despotischen Leviathan abschneiden konnte – nämlich die ausgeprägten nicht-absolutistischen, egalitären Tendenzen des germanischen Kriegertums und die zentralistischen Tendenzen des römischen Rechts und der römischen Bürokratie. Innerhalb dieses Spannungsbogens gelang gleichsam die Quadratur des Kreises: die Gesellschaft mit staatlicher Gewalt zu befrieden, ohne das die Gewalt des Staates die Freiheit zerstörte. Beispielhaft wie so oft war auch hier die Entwicklung in England, denn der so genannte „Witan“, die Versammlung der „Eldormen“ besaß das Recht, den König abzusetzen, wenn er seine Aufgaben – die Sicherung des Friedens und der Eintracht – nicht erfüllte. Es existierten aber auch Traditionen des römischen Rechts, die dem Monarchen gestatteten Rechtssetzungen vorzunehmen, die die alltägliche Anarchie domestizierten. So wurde die Einsetzung eines herumreisenden Friedensrichters durch den König ergänzt durch die zwingend vorgeschriebene Berufung von 12 Geschworenen, die durch die jeweilige Gemeinde gestellt wurden. Kennzeichnend für England war ferner, dass es zunächst keine richtige Exekutive gab sondern dass in England Konfliktlösung, Straßenausbesserung etc. durch die Gemeinden vor Ort gehändelt wurde.
Aber der Wettlauf der Roten Königin ging weiter. Der Intensivierung der staatlichen Macht nach der „Glorious Revolution“ von 1688 folgte die schrittweise Ausweitung der Partizipation, des Wahlrechts und später die Bildung von Parteien. Eine noch höhere Stufe der gegenseitigen Verschlingung wurde erreicht, als sich die Frage nach der Frauenemanzipation und der Existenzsicherung der industriellen Arbeiterschaft stellte.
Was das englische Modell bedeutet, wird klar, wenn man sich die Kontrastmodelle vergegenwärtigt. In Island gab es nur eine „Klinge“ der „Schere“, d. h. es existierten nur ausgeprägte partizipative Elemente, aber keine Tradition der römischen Zentralisierung, so dass die Insel jahrhundertlang in Anarchie verharrte. Ganz anders Byzanz, das einen extrem leistungsfähigen starken Staat besaß, dem keinerlei partizipative Kräfte gegenüberstanden und der somit zum despotischen Leviathan mutierte. An einer anderen Stelle wird das Thema am Beispiel Albaniens und Preußens noch einmal aufgegriffen. Albanien und Montenegro waren außerstande, die Ebene der Clan- und Familienkämpfe zu verlassen und einen Staat zu generieren. Preußen erschuf zwar einen leistungsfähigen Staat, der aber in Richtung auf den despotischen Leviathan entglitt. Dazu unten mehr.
Als vorläufiges Fazit ergibt sich also, dass sich die Sonderstellung Europas nicht durch Geographie oder Kultur erklärt sondern durch das glückliche anfängliche Gleichgewicht der „zwei Klingeln der Schere“ – nämlich aus den egalitären Tendenzen des Germanentums und der zentralistischen Tradition Roms. Beide traten ein in den „Wettlauf der roten Königin“ und schufen auf einem immer höheren Niveau einen gefesselten Leviathan, der der Freiheit des Einzelnen eine Chance ließ. Warum es in anderen Teilen der Welt ganz anders lief, ist der Gegenstand der folgenden Kapitel über Indien, China, die USA und Russland. Auch hier greifen die Autoren tief in ihre historischen Zettelkästen, um ihre Argumentation zu stützen.
Die chinesische Geschichte ist geprägt durch den Widerstreit von Konfuzianismus und Legalismus. Beide sind nach Meinung von Acemoglu und Robinson Doktrinen, die das Schwergewicht auf die staatliche Ordnung legen. Vor allem im Legalismus kommt dem Individuum kein eigenes Recht zu und alle Rechtsetzung ob liegt dem Kaiser. Auch der Konfuzianismus ist letztlich ein moralisch unterfütterter Kollektivismus mit hohem Moralanspruch an die Herrscher. Diese Herrscher versuchten, alles zu kontrollieren, auch die Wirtschaft. Je nachdem, wie weit das gelang (etwa in der Qin-, der Tang- und der Ming-Dynastie) oder nicht gelang (etwa in der Han- und der Qing-Dynastie) verblieb der Gesellschaft ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Freiheit, das aber immer durch staatliche Willkürakte bedroht war. Langfristig aber ging es abwärts, weil die administrative Elite bei den Beamtenprüfungen nach dysfunktionalen Kriterien rekrutiert wurde. Eine gesellschaftliche Gegenmacht, die in Europa unter anderem aus Zünften und Gilden entstand, konnte in China nicht entstehen, weil diese Gilden stark verwandtschaftlich determiniert und durch den Staat kontrolliert wurden. Das notorische Misstrauen der Qing gegen technische Neuerungen ab dem 18. Jahrhundert zeigte sich etwa daran, dass die Chinesen den Briten eine an der Küste gebaute Eisenbahn abkauften und anschließend zerstörten. (Die Abwicklung des hochmodernen Vattenfall-Kraftwerkes in Hamburg lässt grüßen. Den Kommunismus in China sehen die Autoren in der Tradition des chinesischen Despotismus, allerdings in einer besonders blutigen Variante. Das aktuelle chinesische Wirtschaftswunder betrachten sie als ein Wachstum unter Vorbehalt, das jederzeit durch Expansion des despotischen Leviathans abgewürgt werden konnte, etwa wenn florierende private Firmen durch Staatsmonopole, hinter denen Bonzen stehen, abgewürgt werden. Zurzeit funktioniert das chinesische Modell des despotischen Wachstums noch einigermaßen, weil die politische Führung sich um wenigstens ansatzweise Redlichkeit bemüht. Eine Garantie für die Zukunft ist das aber nicht, genauso wenig wie die Hoffnung der Modernisierungstheorie, dass Wachstum automatisch zur Demokratie führen wird. Das halten die Autoren auf der Grundlage der chinesischen Geschichte für absoluten Quark, „Das Wachstum in China wird in den nächsten Jahren voraussichtlich nicht erlahmen. Aber wie bei anderen Phasen despotischen Wachstums hängt sein Fortbestand davon ab, ob es viel Raum für Experimente, Risikobereitschaft und Innovationen schaffen kann. Wie bei allen bisherigen Beispielen despotischen Wachstums ist das eher unwahrscheinlich“ – und das, weil sich der chinesische Leviathan immer autoritärer gebärdet. „Alkohol im Supermarkt kaufen? Keine gute Idee, damit verlierst du etliche Punkte. Es gibt auch Punktabzüge, wenn ein Freund oder Verwandter etwas tut, was den Behörden missfällt. Die Wahl des Liebes- oder Ehepartners beeinflusst ebenfalls den Punktestand. Trifft man Entscheidungen, die der Kommunistischen Partei nicht genehm sind, wird man von der Gesellschaft ausgeschlossen, darf nicht reisen, kein Auto und keine Wohnung mieten, und man bekommt keine Arbeit.“
Die Sonderentwicklung Indiens ist auf die Wirkung des Kastenwesens zurückzuführen. Das Kastenwesen ist wahrscheinlich der effektivste „Normenkäfig“ überhaupt. Es verhindert Mobilität und Selbstorganisation und macht die Kastenangehörigen „zu Ratten, die nur in ihrem Loch hocken und jeden Kontakt vermeiden,“ Obwohl die indischen Gesetze Gleichheit und Freiheit vorschreiben, werden diese durch rigide Kastenregeln verunmöglicht. Was ist das konkret bedeutet, machen die Autoren am Beispiel des indischen Bundesstaates Bihar deutlich. Seine katastrophale Bilanz und sein weitgehendes Nichtbesetzen öffentlicher Stellen ist auf den Kampf eines Sudra Premierministers gegen die Brahmanen zurückzuführen.
Fazit: die Selbstorganisation der Gesellschaft, die über die bloßen Verwandtschaftsgerade hinausweist und als solidarische Aktionseinheiten dem Staat gegenüber treten könnte, kann nicht entstehen, weil sich der Staat, der sich um Gleichheit vor dem Gesetz bemüht, einem. extrem tief verankerten Normenkäfig gegenübersieht, den er nicht aufbrechen kann. Der Wettlauf der roten Königin findet nicht statt, sie „zerbricht“.
Die weiteren Kapitel des voluminösen Werkes beschäftigen sich mit den USA und dem Ostblock, namentlich Russland. Die USA werden als ein gefesselter Leviathan besonderen Stils beschrieben. Der Bundesstaat als gefesselter Leviathan sieht sich starken Einzelstaaten gegenüber, die innerhalb ihrer eigenen Jurisdiktion mitunter Tendenzen zum despotischen Leviathan aufweisen. Das betrifft vor allem die schwarzen, die nach Meinung der Autoren noch immer weißen Rassisten dominiert werden. In den Worten der Autoren: ein Teil der US Amerikaner lebt nur sehr begrenzt im „Korridor der Freiheit“. Viele lebten bis in die Sechziger Jahren in sogenannten „Sundowner Gemeinden“ an der Route 66, in denen Farbigen nach Einbruch der Nacht der Ausgang verboten war. Die Autoren monieren außerdem, dass infrastrukturelle und sozialpolitische Maßnahmen der Zentrale durch die föderale Verfassung der USA behindert werden Erst die Tätigkeit des Obersten Gerichtshof den fünfziger Jahren führte dazu, dass bestimmte despotische Tendenzen von Einzelstaaten gegen Minderheiten begrenzt wurden. Die begrenzten Kompetenzen des Bundesstaates werden wenigstens teilweise durch privatwirtschaftliche Partnerschaften ausgeglichen, wie etwa dem privat organisierten Bau der transkontinentalen Eisenbahn und der privatwirtschaftlich arbeitenden Post. Eine weitere US-amerikanische Besonderheit besteht darin, dass in Amerika die Richter über Präzedenzfälle rechtssetzend wirken können und Sammelklagen der Bürger, die in diese Richtung wirken wollen, zulässig sind. Am Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts stärken die Antitrust- Gesetzgebung, der New Deal und Johnsons Grat Society die zentralstaatliche Macht. Noch immer aber fehlt eine staatliche Krankenversicherung – staatlicherseits existieren nur Medicare und Medical Aid.
Der Zusammenbruch des Ostblocks stellt die Menschen vor das Problem, wie ein despotischer Leviathan so zurück entwickelt werden kann, dass ein Korridor der Freiheit entsteht. In Russland wurde versucht, das Nationalkapital durch die Coupon-Revolution zu vergesellschaften, ein Unternehmen das von Anfang an schief ging, weil Belegschaften und Kombinatsdirektoren beim Erwerb der Coupons bevorzugt wurden. Diese gescheiterte Vergesellschaftung des Staatskapitals brachte die Oligarchen nach oben, die für die Wiederwahl Jelzins sorgten. Eine anarchische Oligarchie deutete sich an, die erst durch Putins brutale Machtübernahme teilweise zerschlagen wurde. Putins Zerschlagung der Oligarchenmacht durch Mord und Totschlag leitete einen Teil ihre Gewinne in die Gesellschaft zurück, ein Teil steckt Putin in die eigene Tasche. Es handelt sich im Falle Russlands also um einen despotischen Leviathan, der einen Teil seiner illegitimen Gewinne an die Bevölkerung abgibt. Antike Zeitgenossen würden hierin ein klassisches Merkmal der „Tyrannis“ entdecken.
Am Ende, nach fast tausend Seiten, schwirrt dem Leser der Kopf, und er ist hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung für die weitgespannten historischen Horizonte und kritischer Anmerkungen, die hier und da in ihm aufkeimen. Gelegentlich wundert man sich über die Selektivität der herangezogenen historischen Belege. Warum wurde im Kapitel über China nicht die maritime Expansionsperiode der frühen Ming-Dynastie thematisiert, die ideal in das Argumentationsschema der Autoren passen würde. Und im sogenannten preußischen Despotismus vermisst man die Stein-Hardenberg´schen Reformen ebenso wie das preußische Landrecht, dessen Pointe ja gerade darin bestand, auch den Staat an das Recht zu binden. So entgeht den Autoren in Gestalt des sich selbst fesselnden Leviathans eine interessante Variante ihres Modells. Über die Sondersituation, die sich in Polen aufgrund des Katholizismus ergibt, wird kein Wort verloren. Die Abqualifizierung der polnischen PiS Partei als autoritätsaffin befremdet, weil doch die PiS als eine Selbstorganisation der Gesellschaft gegen die Übermacht des Staates angesehen werden kann.
So bleibt am Ende ein zwiespältiges Fazit. Die anfängliche Begeisterung wich einer gewissen Ernüchterung, weil Lücken und holzschnittartige Urteile irritieren. Das trifft auch auf das Kernmodell der „roten Königin“ zu. Der „Wettlauf der roten Königin“ beruht auf einer Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft, die aber so zum Beispiel in der bundesrepublikanischen Gegenwart nicht mehr existiert. In Parteiendemokratien wird er Wettlauf dem Publikum nur vorgespielt, weil Staat wie (Zivil)Gesellschaft durch die gleichen Strippenzieher gelenkt werden, nämlich die Parteien Staat und Gesellschaft dominieren und sich zu Kartellen zusammenschließen. Der Merkelismus lässt grüßen.