„Ich habe mehr als einmal bitter geweint, weil ich zutiefst fühlte, wie das Leben verrann, wie die Tage meiner Jugend leer, freudlos und öde vorübergingen,“ schrieb bereits die junge Alexandra. „Ich war mir bewusst, dass ich eine Zeit unnötig vertat, die niemals wiederkehren würde, dass ich Stunden verlor die wunderbar hätten sein können.“ Als wolle sie sich auf diese wunderbaren Stunden so früh wie möglich vorbereiten, begann sich schon das kleine Mädchen nach Regeln abzuhärten, die sie den Lebensgeschichten christlicher Heiliger entnommen hatte. „Entbehrungen ließen mich kalt. Ich war nicht im geringsten eitel. Kleider und Putz sagten mir überhaupt nichts: ich verachtete den Komfort. Der Geist, dachte ich, muss den Körper beherrschen und ihn zu einem willigen und widertandsfähigen Instrument gestalten, auf den er sich in jeder Situation verlassen kann.“
So vorbereitet hat sich Alexandra David Neél in einem abenteuerlichen Leben ihre Träume in einer Weise erfüllt, wie es nur wenigen Menschen vergönnt gewesen ist. Über die theosophischen Zirkel in London, über ein Engagement als Opernsängerin in Hanoi und eine Vernunftehe mit dem Schürzenjäger Philipp Neél führt sie ihr Weg in die Eremitagen des Himalaja, wo sie auf den Rat des 13. Dalai Lama hin Tibetisch studierte, ehe sie nach dem ersten Weltkrieg an der Seite eines jugendlichen Rotmützen-Lamas von Amdo aus ihre jahrelange Odyssee durch Tibet begann, an deren Ende es ihr tatsächlich gelang sich als Pilgerin verkleidet zwei Monate in Lhasa aufzuhalten.
Die Belesenheit und Bildung, aber auch die Strapazierfähigkeit der kleinen Frau grenzt von heute aus gesehen ans Unglaubliche. Wie von einem guten Geist geführt erreichte sie fast mühelos all die heiligen Orte, nach denen sich Sven Hedin sein Leben lang vergeblich verzehrte, und doch veränderte sich, je mehr ich über sie und von ihr las, meine Einstellung ihr gegenüber ins Ambivalente. Die unbedingte Konsequenz all ihrer Handlungen wirkte auf mich übermenschlich, ihre innere Freiheit gegen alle Bindungen unbarmherzig, und ihr der altindischen Philosophie entlehntes Lebensmotto, das sie in bis in ihr hundertstes Lebensjahr durchhielt, erschien mir fast hybrid. „Sei Dir Dein eigenes Licht. Sei Dir deine eigene Zuflucht,“ verkündete die berühme Orientalistin bei jeder Gelegenheit, und getreu dieser Maxime machte sie sich noch knapp hundertjährig an die Vorbereitung einer neuen Reise, die sie aber absagen musste, weil die letzte und größte aller Reise sie aus der Welt nahm.
Alexandra David Néels „Mein weg durch Himmel und Höllen“ macht den Leser zum Zaungast dieses unglaublichen Lebens. Nach einer informativen und gut leserlichen Einführung von Thomas Wartmann beginnt da Buch mit dem Kapitel „Warum ich nach Lhasa ging“ und läst den Leser nicht mehr los bis zur letzten Seite. Allererste Wahl für jeden Tibetfreund.