Aron Frieden und Krieg

Aron Frieden und KriegDie internationale Politik, so schreib Raymond Aron in der Einleitung des vorliegenden Buches, besitzt keinen fest umrissenen Gegenstand. Wie in der Ökonomie kann Alles und Jedes zu ihrem Gegenstand werden. Deswegen ist sie in ihrer Gesamtheit auch nur interdisziplinär, d.h. in der Zusammenschau verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven, zu erfassen. Nach Aron sind dies die Philosophie, die Soziologie, die Geschichte und die Rechtswissenschaft, jene vier Zugänge, die in Arons monumentalem Werk der Reihe nach durchdekliniert werden und die in ihrer Zusammenschau eine „Theorie der Staatenwelt“ ergeben.
Im ersten philosophisch-theoretischen Teil entwickelt Aron die klassischen Grundbegriffe zur Analyse der internationalen Beziehungen. Ausgangspunkt image015seiner Betrachtungen sind Staatensysteme als konkurrierende Gebilde, wobei der interne Integrationsmodus dieser Staaten zunächst unwichtig ist. Je nach Mächtigkeit und Größe dieser Systemteilnehmer unterscheidet Aron multipolare und bipolare Systeme – ist einer der Akteure so übermächtig, dass er alle anderen Staaten inkorporieren könnte, spricht er von Imperium. Bezieht man den Integrationsmodus der einzelnen Staaten mit in die Betrachtung ein, ergibt sich die Unterscheidung von homogenen und heterogenen Gebilden. Ein homogenes System stellt etwa die europäische Pentarchie des 18. Jhdts. dar, weil der Staatsaufbau Englands, Frankreichs, Preußens, Österreichs und sogar Russlands adlig-monarchisch-ständestaatlich verfasst war. Mit der Entstehung der radikalen Ersten Französischen Republik und dem von ihr gegen die Monarchien begonnenen Kreuzzug wandelt sich das homogene Staatensystem in ein heterogenes System. Was sich auf den ersten Blick akademisch anhören mag, hat für die internationalen Beziehungen weitreichende Folgen. Kriege zwischen homogenen Gegnern haben meist nur hegemoniatechnische oder regionale Gründe, sie lassen den inneren Aufbau des image014Gegenübers meist außer Betracht. Kriege zwischen heterogenen Gegnern tendieren dazu totale Kriege“ zu werden, weil der Sieger dem Unterlegenen auch sein eigenes Integrations- und Gesellschaftsmodell aufdrückt. Klassisches Beispiel dafür sind etwa die unter dem Schutz der siegreichen UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen kommunistischen Vasallenstaaten in Osteuropa. Kombiniert man nun die Unterscheidungen von multipolar und bipolar mit homogen und heterogen, erhält man ein recht leistungsfähiges begriffliches Instrumentarium zur Einschätzung der Brisanz zwischenstaatlicher Konflikte, wobei Aron der Meinung ist, dass sich rein machtphysikalisch der heterogen-bipolare Konflikt zwischen dem demokratischen Athen und dem aristokratischen Sparta von der heterogen-bipolaren Gegensätzlichkeit der kommunistischen UdSSR und der marktwirtschaftlich-demokratisch verfassten USA prinzipiell nicht unterscheidet. Aber auch wenn sich Staatensysteme vom heterogenen Systemzustand in einen homogenen verändern wie dies nach 1989 der Fall war, würde Aron, die diese Entwicklung nicht mehr erlebte, niemals so bläuäugig sein, einen ewigen Frieden“ oder ein „Ende der Geschichte“ anzunehmen, weil auch zwischen homogenen Systemteilnehmern jede Menge Konfliktstoff entstehen und zu Kriegen führen kann. Georgien lässt grüßen.
Der zweite Teil des Buches behandelt unter de Überschrift Soziologie“ die außenpolitisch relevanten Machtquellen der Systemteilnehmer. Bevölkerung, Waffentechnik, Motivation, Mobilmachungsgeschwindigkeit, Elitenkompetenz, Massenloyalität – schier unübersehbar sind die Faktoren, die konkret die Macht eines Akteurs in Frieden und Krieg bestimmen können. Wie der Krieg dann wirklich ausgeht, aber ist allein durch diese Berechnungen nicht auszumachen, man denke nur an die Hazardkriege Friedrichs II von Preußen, die er nur durch einen einmaligen Glücksfall ( den Tod der Zarin Elisabeth 1762 kurz von dem Zusammenbruch seines Staates) überstand.
Unter der etwas irreführenden Überschrift „Geschichte“ behandelt Aron „Das planetarische System im thermonuklearen Zeitalter“, also den heterogen-biopolaren Gegensatz von West und Ost. Irreführend ist dieser Titel deswegen, weil in allen vier Teilen des Buches auf dem Hintergrund geradezu frappierender Geschichtskenntnisse alle Darlegungen immer an historischen Beispielen verdeutlicht werden. Hier aber geht es um eine sehr spezielle Einführung in die Theorie und Praxis des Ost-West-Konfliktes, den Aron vor allem unter dem Aspekt eines drohenden Atomkrieges betracht.
Im vierten und letzten Teil seines Werkes („Praxeologie“) beschäftigt sich der Autor mit den Antinomien des politisch-strategischen Handelns. Dabei hält Aron nichts von Beschwichtigungspolitik und Schönfärberei – der der Hobbessche Kampf „Aller gegen Alle“, den der moderne Staat innerhalb seiner Grenzen weitgehend domestizierte, ist auf dem Feld der internationalen Beziehungen erhalten geblieben. Wenn also alles Streben der international tätiger Akteure auf einen möglichst tragfähigen Frieden hin ausgerichtet werden „soll“ ( das ist die normative Vorgabe einer Theorie der Staatenwelt ), kann dies innerhalb von Systemen mit ungleich starken Akteuren nur durch Bündnisse und Verrechtlichung (Völkerrecht) erreicht werden.
Soweit die Kurzbeschreibung des Werkes. Dass es mit seinem übergreifenden Ansatz auch nach dem Untergang der UdSSR nach wie vor aktuell und ergiebig ist, sollte nach dem bisher gesagten klar sein. So leben wir (in der Perspektive Arons ) zur Zeit in einer tendenziell multipolaren Welt, wobei die Problematik der USA darin besteht, bei weitem der mächtigste Akteur zu sein, ohne dass den USA wirklich eine imperiale systembeherrschende Stärke zur Verfugung steht.
Mit dieser Kurzbeschreibung des Werkes will ich es bewenden lassen. Wer bin ich, die stauenswerte Bildung des Autors, seinen prägnanter Stil oder die Luzidität seiner Argumentation zu loben oder gar zu bewerten? Ich sage nur: Jeder der sich wirklich für die Theorie der Staatenwelt auf weltgeschichtlicher und planetarischem Niveau interessiert, greife zu dem Buch und lese. Es gibt nichts Besseres.

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