Nicht nur Menschen, auch ganze Nationen verstehen mitunter nicht so recht, was mit ihnen vorgeht. Diesem Umstand verdankte der junge britische Politikwissenschaftler Timothy Garten Ash in den Achtziger Jahren seinen großen Erfolg, als er als Brite in seinem Klassiker „Ein jahrhundert wird abgewählt“ die Umbrüche der osteuropäischen Revolutionen dem staunenden kontinentaleuropäischen Publikum vor Augen führte.
Nach dem gleichen Muster ist auch das vorliegende Werk konzipiert, das die Veränderungen Europas in den Neunziger Jahren zum Thema hat. „Vor 1989 war Europa wie Berlin geteilt in Ost und West durch eine Mauer“, schreibt Ash. „Jetzt ist Europa wie eine große amerikanische Stadt mit reicheren und relativ wohlhabenden Vierteln, so wie Georgetown oder die Upper East Side von Manhattan, die nur wenige Straßenzüge entfernt von den gewalttätigen Elendsquartieren liegen.“ (S.232). Interessant sind dabei für Timothy Garton Ash nicht in erster Linie die alten Kernländer der EU, also die Upper East Side, und auch nicht der wilde Osten, der für die Ukraine, Weißrussland und Russland stehen, sondern die Zonen des Überganges, die Ash als „Mitteleuropa“ kennzeichnet. Mitteleuropa, die „Gefangene des Ostens“, die als Großregion alle Entwicklungen des Westens wie Renaissance, Aufklärung und Revolutionen mitgemacht hatte und vom totalitären Kommunismus zivilisatorisch barbarisiert wurde, ist ziemlich exakt identisch mit Tschechen, der Slowakei, mit Polen, Ungarn und den drei baltischen Staaten, also jenen Ländern, die noch in den Neunziger Jahren auf ihren Eintritt in die EU hofften und die seit dem 1.4.2004 aufgenommen worden sind. Diese mitteleuropäische Zone des Überganges hat im Zuge der großen Transformation mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen. Zunächst ist da die Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit, die die Innenpolitik dieser Länder aufwühlt. Obwohl Geschichte, wie Ash in der Nachfolge Nietzsches anmerkt, niemals ohne Vergeben und Vergessen geschehen kann, ist der Autor für eine Aufarbeitung der Vergangenheit, kann sich aber nicht recht entscheiden, in welcher Form dies geschehen soll. Kein Wunder, dass ihn die zweite Entwicklungstendenz des neuen Mitteleuropas empört, nämlich der Wiederaufstieg der Postkommunisten in Polen und Tschechien und vielen Regionen, die unter dem marktwirtschaftlichen Wandel besonders zu leiden hatten. Stellvertretend für viele dieser unappetitlichen Renaissancen wird der Wahlsieg des Exkommunisten Kwasniewski gegen Lech Walesa in Polen angeführt. „Da sind sie wieder an der Macht; die Männer und Frauen, die uns so viel Jahre belogen haben“, (S. 248), kommentiert Ash bitter und vermerkt gleichsam nebenbei, wie Oskar Lafontaine, der damals gerade neu gekürte Vorsitzende der SPD nichts Eiligeres zu tun hatte, als dem Exkommunisten Kwasniewski zu seinem Wahlsieg zu gratulieren. Aber noch wichtiger als der Wiederaufstieg der Exkommunisten, die sich inzwischen zum Teil wirklich zu Sozialdemokraten gewandelt haben mögen, ist der Geburtsmakel des neuen Europas in den Neunziger Jahren: das Wideraufbrechen der ethnischen Spannungen, dargestellt an den Gräueln der Balkankriege in Bosnien und Kosovo. Weit davon entfernt, in den Opfern nur Heilige und in den Tätern nur Monster zu sehen, konstatiert Ash an diesem gesamteuropäischen Desaster dem eine Viertelmillion Menschen zum Opfer fielen, nicht nur ein Versagen Europas ( erst das Eingreifen der USA beendete die serbischen Gemetzel) sondern die bittere Leere, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Liberalität ganz offensichtlich auf relativ homogene Nationalvölker angewiesen sind, ein Befund, den die Multikulitfans nicht gerne hören werden.
Dem Leser diese komplexen und politisch nicht immer ganz korrekten Zusammenhänge detailliert zu erklären, ist das erste große Verdient des Buches. Dass dies nicht mit erhobenem Zeigefinger sondern immer anschaulich und meist eingebettet in spannend zu lesende Reportagen geschieht, ist sein zweiter Vorzug. Erst auf dem Hintergrund dieser miterlebten Geschichte werden die Wertungen, die Ash vornimmt verständlich und nachvollziehbar – es sind vorsichtige Wertungen, die der Autor anbietet, immer im Bewusstsein, dass sich die Geschichte wandelt und die Strukturen von heute schon morgen in Trümmern liegen können. Dass sich heute etwa die polnische Solidanrnocz und die polnischen Postkommunisten gegen die Sammlungsbewegung der Kazcinskibrüder in der Defensive befinden war ebenso wenig voraussehbar wie die aggressive Rückkehr der russischen Großmachtpolitik unter dem Geheimdienstchef-Präsidenten Putin. „Dieses Buch ist ein Kaleidoskop““ heißt es deswegen auch bescheiden auf S. 474. „Ich hoffe, dass in seinen bunten Fragmenten einige Wahrheiten über Europa erkennbar werden, während die Hand der Zeit sie fortwährend zu neuen Mustern arrangiert.“ Für alle interessierten Europäer, die wissen wollen, welche Kräfte und Gestalten in diesem Kaleidoskop am Werk sind, allererste Wahl. Und wer wissen will, wie es weiterging, dem empfehle ich Joachim Jauers: Die halbe Revolution. 1989 und die Folgen,