Es ist schon ein Kreuz mit den Vätern, vor allem, wenn sie so berühmt und unwiderstehlich daherkommen wie Geheimrat und Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe. Davon konnte sein Sohn August ein Lied singen. Sein Leben lang hat er sich um die Anerkennung des großen Vaters bemüht, der seinerseits nur um sich selbst kreiste. Augusts Ehe mit Otilie von Pogwitsch war schlecht, weil seine Frau ihm turmhoch überlegen war. Seine Kinder sahen mehr zum Großvater auf als zu ihm, und seine Position am Hof von Weimar war subaltern und geduldet. Geht man zu weit, wenn man August von Goethes allzeit schwache Gesundheit mit dieser Konstellation zusammendenkt?
In dieser Gemengelage von Kränkung und Ressentiment kommt es zu August von Goethes italienischer Reise. Sie wird vom Vater finanziert, der sich von der Begegnung seines Sohne mit Italien viel verspricht. In einem Briefentwurf an Eckermann, der den Sohn begleiten soll, findet sich sinngemäß die Wendung:
Reise, um die Welt in dich aufzunehmen und eine in dir angelegte Beschränktheit aufzubrechen.
Löst man diesen Satz aus seinem spezifischen Kontext, kann man in ihm mit Fug und Recht den „Kategorische Imperativ des Reisens“ erkennen, eine normatives Ideal, an dem sich das Reisen ausrichten sollte. Dass die konkreten Reisen oft weit hinter diesem Horizont zurückbleiben, widerspricht nicht seiner normativen Wahrhaftigkeit. Der in ihm ausgedrückte Sachverhalt steht im Horizont der neuzeitlichen Subjektivität, die ihre Erfüllung in der Aneignung des Objektiven ihre Vollendung anstrebt. Möglich, das der alte Goethe bei der Formulierung dieser Worte seine eigene italienische Reise vor Augen hatte, die er über dreißig Jahre früher mitten in einer Sinnkrise angetreten hatte ehe er sich, seinem eigenen Selbstverständnis nach, in Rom revitalisierte.
Augusts von Goethes Zustand vor seiner italienischen Reise ist ähnlich wie des des Vaters über virzig Jahre vorher – wenngleich auf einem kreatürlicherem Niveau. August von Goethe leider an Nierenkoliken, fühlt sich allzeit schlapp und niedergeschlagen und lebt in einer unglücklichen Ehe mit Ottilie, die die Nase von ihm voll hat und einer Brieffreundin anvertraut, es wäre besser, August kehre nicht zurück.
So besitzt die Italienreise des Goethesohnes viel spezifisch Persönliches, aber auch viel Typisches, was für das heutige Reisen charakteristisch ist. Zunächst setzt beim Vierzigjährigen morbiden August sofort nach der Ankunft in Italien das ein, was Herder in seinem Reisejournal als die „merkwürdige Verjüngung“ beschreibt, die das Reisen mit sich bringt. Er kann wieder schlafen, nimmt ab, auch wenn er nach wie vor viel zu viel trinkt. Trotzdem lässt ihn auch in der Fremde der Vater nicht los. Goethe hatte seinen Sohn angewiesen, Reisetagebuch zu führen und regelmäßig in Briefform nach Weimar zu schicken. So macht August nolens volens sich wacker Notizen vor Ort, die er später ausformuliert, um sie dem Vater pflichtgemäß zu schicken. Allerdings stößt ihm diese Arbeit sauer auf, denn August ärgert sich über den Zeitaufwand, den die Ausarbeitung seiner Notizen verursacht. Von der Idee einer „Vertiefung des Reiseerlebnisses durch die Verschriftlichung“ (Ernst Jünger) ist er weit entfernt. Auf der anderen Seit erscheinen die Reisetagebücher des Sohnes erstaunlich modern, da sie viel Subjektives enthalten. August äußert seine Begeisterung und Verwunderung über die Herrlichkeiten Italiens in einer sympathischen Unverblümtheit, die man in der „Italienischen Reise“ des Vaters vergeblich suchen wird. Dem Vater aber gefällt es, er hatte Schlimmeres erwartet, auch wenn er die eine oder andere „Exzentrizität“ moniert.
August seinerseits erlebt im Frühherbst 1830 in Neapel „die schönste Zeit seinesLebens“. Befreit von der trüben Weimarer Stimmung, kommt seine natürliche Leutseligkeit, ein Erbteil seiner Mutter Christiane Vulpius, zum Tragen, und er gewinnt schnell Freude. Seine Reisebegleiter und Aufpasser Eckermann ist, da erkrankt, inzwischen längst nach Weimar zurückgekehrt. August lernt den jungen Archäologen und Maler Wilhelm Johann Zahn kennen, der ihm mit den Ausgrabungen von Pompeji vertraut macht. Im Zusammenspiel mit ihm und der italienischen Ausgrabungsleitung erwirkt August von Goethe, dass ein besonders schönes neu ausgegrabenens Haus in Pompeji den Namen „Casa Goethe“ erhält – eine rührende, bescheidene Devotion zu Ehren des übermächtigen Vaters, zugleich die größte Geste, derer er fähig ist, bevor er stirbt.
Denn ohne dass irgendwelche Zeichen darauf hindeuten, brechen Augusts letzte Tage an. Er erreicht Rom am 16. Oktober 1830 und notiert: „Wer aus Neapel kommt, dem erscheint Rom tot“, was er wohlweislich nicht dem Vater schreibt, der von Rom nur als dem Ort seine eigenen Wiedergeburt reden kann. August gewinnt in Rom schnell neue Freunde, unter anderem den diplomatischen Gesandten August Kersten, den Sohn von Charlotte Kersten, geborene Buff, die den jungen Goethe einst abblitzen ließ und damit zum „Werther“ inspirierte. Was für ein Zusammentreffen. Sie freunden sich an, verbringen viel „Qualitity Time“ miteinander, wie man heute sagen würde – ehe August nach nur einer guten woche in Rom plötzlich erkrankt und völlig unerwartet verstirbt. Offiziell wird Scharlachfieber als Todesursache diagnostiziert, in Wahrheit war der Sohn ein Opfer seines Alkoholismus geworden.
Die Nachricht vom Tod des Sohnes trifft Goethe schwer, auch wenn er es nicht zeigen mag. Er fühlt sich beraubt und fürchtet, dass nun die familiären Pflichten überhand nehmen werden. Die von ihm verfasste Grabinschrift für den Sohn verweist im Kern nur auf ihn. „Goethe, der Sohn, / dem Vater / vorangehend, / schied dahin / mit 40 Jahren, / 1830).“
Die Idee, die Reisetagebücher des Sohnes als eigenes Werk postum herauszugeben, verwirft Goethe wegen der in den Reisebücher überall obwaltenden „Individualität“. Gerade das aber macht heute den Wert eines Reisetagebuch es aus. Und dass dies bei Goethes eigener „Italienischen Reise völlig fehlt, macht den Reisebericht des Dichterfürsten, sagen wir es offen, ein wenig langweilig.