Gilmour: Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der italienischen Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart

Gilmour Auf der Suche nach ItalienKaum ein Land in Europa, Deutschland vielleicht ausgenommen, besitzt eine so komplizierte Nationalgeschichte wie Italien. Einfach deswegen, weil die italienische Geschichte über weite Zeiträume hinweg identisch mit der allgemeinen Geschichte Europas war. Für das Altertum und das römische Reich trifft dies ohnehin zu, aber auch im Mittelalter kreiste alles um Rom, das Kaisertum, das Papsttum und die Kirche. Auch die Renaissance war im Ursprung ein italienisches Phänomen und Spanien und Frankreich, die ersten modernen Territorialstaaten traten, kaum waren sie entstanden, nirgendwo anders zum Kampf gegeneinander an als in Italien. Auch wenn der Totalitarismus in Deutschland und Russland seine brutalste Ausprägung gefunden hat, die Uraufführung des totalen Staates vollzog sich in Italien, auch wenn er dann durch den italienischen Schlendrian dann ‚ gottlob ‚ doch nicht so total wurde wie in Deutschland oder Russland.
Der schottische Wissenschaftsjournalist David Gilmour hat es gewagt, eine problemorientierte Geschichte Italiens zu vorzulegen. Ich habe dieses Buch bei meiner letzten Italienreise mit großer Anteilnahme gelesen. Wie hat es mir gefallen? Antwort: Außerordentlich gut und das gleich aus mehreren Gründen.

Zuerst ist das Buch nicht nur enorm informativ sondern auch sprachlich ein Genuss. Der Autor versteht es, die unglaubliche Stofffülle übersichtlich zu gliedern, seine Akzente klar und nachvollziehbar zu setzen und durch zahlreiche Belege zu stützten. Die Balance von Darstellung und Kommentar ist in geschichtlichen Werken immer heikel, in dem vorliegenden Buch aber ist diese Balance beispielhaft gelungen. Der eigentlichen Geschichte Italiens vorgeschaltet ist ein geografisch- ethnologisches Kapitel, demzufolge Italien im Ursprung alles Mögliche gewesen war – bloß keine Einheit. Etrusker, Gallier, Samniten, Umber, Griechen, Karthager und viele andere Völker mehr sprachen die unterschiedlichsten Sprachen, die gebirgige Landschaft und die geringe Zahl schiffbarer Flüsse begründete einen ausgeprägten Regionalismus, der bis heute fortwirkt. Was wäre Großbritannien ohne London? fragt Gilmour – doch wenn man aus Italien Rom wegdenkt, blieben immer noch Florenz, Mailand, Venedig, Neapel und viele andere Städte mehr.
Ohne dass die verwickelten Verhältnisse in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit vernachlässigt würden, legt Gilmour den Schwerpunkt seiner Darstellung eindeutig auf der Entwicklung des modernen Italiens, genau gesagt auf der Geschichte der Apennin Halbinsel nach Napoleon. Italien war im 15. und 16. Jhdt. das reichste Land Europas, schreibt Gilmour, im 19. Jhdt. lag es im ökonomischer und politischem Koma. „Was bin ich froh, dass es die Spanier gibt“, zitiert er Rossini, „sonst wären die Italiener das Allerletzte.“ Industrialisierung, Aufklärung, bürgerliche Revolution, Liberalismus, alle Triebkräfte, von denen Hegel gesagt hat, dass die die Kräfte der Nationen erst richtig entfesseln, traten in Italien verspätet auf den Plan ‚ und als sie endlich erwachten, wurden sie zu innerlich widersprüchlichen Triebkräften. Ganz ähnlich wie in Deutschland wurde auch Italien nicht zuletzt durch eine Monarchie geeint, doch im Vergleich zum reaktionären Königshaus Savoyen waren die Hohenzollern geradezu ein Inbegriff von Modernität und Liberalismus. So hochgestimmt die Selbstkennzeichnungen des Risorgimento auch gewesen waren – geeint wurde Italien durch drei Schlachten die andere Mächte gewannen: Solferino (Frankreich über Österreich), Sadowa und Sedan (Preußen über Österreich bzw. Frankreich). Wirklich originell waren die Italiener nach Gilmours Meinung eigentlich nur in ihrer Opernkultur, was einen sympathischen Zug hat, aber nicht entschuldigt, 1915 unter Bruch aller Bündnisverträge den Dreibundpartner Österreich anzugreifen und sich anschließend Südtirol unter krassem Bruch des Selbstbestimmungsrechtes einzuverleiben. Von den schrecklichen Kolonialkriegen in Libyen und Äthiopien ganz zu schweigen. Wirklich begraben wurde die Idee einer italienischen Großmachtpolitik nach ihrer grotesken Überspannung durch Mussolini erst nach 1945, als sich Christdemokratie und Kommunisten gegenübertraten. Don Camillo und Peppone lassen grüßen. Aber auch in diesem zugrechtestutzten Staat wucherte eine spezifische Italianata: die Korruption, der Schlendrian und nicht zuletzt die Mafia, die bis in die höchsten politischen Kreise wirkte. Selbst nach dem Zusammenbruch des politischen Systems in den frühen Neunziger Jahren wurde es nicht besser, denn kaum waren die Christdemokraten im Müll der Geschichte verschwunden, kam Berlucsoni, an dem Gilmour kein gutes Haar lässt. So bleibt wie in aller Geschichte am Ende kein Happyend, sondern eine offene Zukunft, deren weitere Entwicklung auf der Grundlage des vorliegenden Buches zwar nichtvorauszusagen, aber sicher besser zu verstehen ist.

Ich habe das Buch mit großem Gewinn gelesen. Obwohl ich der Meinung war, mich in der italienischen Geschichte relativ gut auszukennen, gab es kein Kapitel in dem ich nicht neue Akzente oder Sachverhalte erfahren hätte, immer gewürzt mit Anekdoten, die schlaglichtartig ganze Problembereiche erhellen. Herrlich, die Geschichte des durchgeknallten Nationalisten Prezzofini, der Spagetti-Essen als ‚unitalienisch‘ brandmarkte, aber dabei fotografiert wurde, wie er die Spagetti eimerweise verschlang. Ganz besonders gut gefallen haben mir auch die literarischen und cineastischen Exkurse ‚ etwa die Analyse des unsäglich naiven Bertolucci Films ‚1900‘ und die Nachzeichnung der gottseidank erfolglosen Kampagne der kulturdominanten Linken gegen Lampedusas genialen Roman ‚Der Leopard‘. Doch auch für den Anfänger ist diese Geschichte Italiens unbedingt empfehlenswert. Für den Italienliebhaber sowieso, auch man am Ende erkennen muss, dass das vielleicht schönste Land der Welt nicht unbedingt die schönste Geschichte hat.

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