Indien hat viele Imperien hervorgebracht, so viele, dass auch der historisch Interessierte leicht den Überblick verliert. Colas, Pandyas, Chalukkas, Mauryas, Guptas, Rashtrakrutas, – das sind für den Indienreisenden Begriffe, die ihn genauso verwirren wie einen Inder die Dynastien der Bourbonen, Habsburger, Jagiellonen oder Hohenzollern.
Deswegen die gute Nachricht gleich vorweg: Das vorliegende Buch schafft Abhilfe und bietet eine profunde Geschichte des indischen Subkontinentes von den Anfängen bis zum Jahre 1998 in einem gut lesbaren Guss. Im Unterschied zur Meinung meines verehrten Vorrezensenten, dem das Buch zwar auch gefiel, der aber „zu viele Details“ beklagte, finde ich, dass gerade die Hauptstärke des Buches darin besteht, die unübersehbare Detailvielfalt, die nun einmal zur indischen Geschichte gehört, zu den Grundstrukturen von Umwelt, Klima, Wirtschaft und sozialem Entwicklungsstand in eine nachvollziehbare Beziehung zu setzen. Was umso beachtlicher ist, weil nicht nur die schriftlichen Quellen sondern auch die Sekundärliteratur und die ganze Fülle der archäologischen Forschung mit einbezogen werden.
So wird zum Beispiel der Aufstieg und Niedergang der Induskultur im 2. Jahrtausend vor der Zeitrechnung sehr einleuchtend mit dem Klimageschehen in Verbindung gebracht, auch der Vorstoß der arischen Eroberer aus dem Punjab in die Gangesebene war die Folge einer extrem trockenen Klimaperiode, die es erlaubte, die Urwälder der Gangesebene zu roden. Erhitzung oder Erwärmung sind also per se nicht immer etwas nur Gutes oder nur Schlechtes, sondern immer von den Kontexten abhängig, in denen dis sich vollziehen. Schönen Gruß an unsere Klimapriester.
Ein anderes Beispiel: die für die ganze indische Geschichte konstitutive Zweiteilung in Nord und Süd und die Probleme einer übergreifenden Reichsbildung werden durch die Kennzeichnung einer geographisch-abweisenden und kaum beherrschbaren Zentralzone zwischen Orissa und Gujarat verständlich – ebenso wie das Scheitern der Versuche der Sultane von Delhi und der Mogulkaiser durch Gründung südlicher Hauptstädte ( Daulatabad, Aurangabad) dieses Problem zu umgehen. Erst die Briten, die einen ganz andere, maritimen Zugang zu Indien besaßen, konnten dieses Problem umgehen.
Abseits solcher Struktureinsichten besticht das Werk durch zahlreiche Detailperspektiven, die mir jedenfalls in dieser Form unbekannt waren. Besonders interessant fand ich die Untersuchung des Rajputentums, dessen Ursprünge aus dem zentralasiatischen Raum sehr klar nachgezeichnet werden und dessen Umformung und Ausstrahlung zum Beweis dafür wird, als wie assimilationsfähig sich der Subkontinent immer wieder erwiesen hat. Einen besonderen Schwerpunkt legt das vorliegende Werkes auf die Beleuchtung der Lokalgeschichte. Besonders packend in diesem Zusammenhang: die Geschichte des südindischen Cola-Imperiums, das im 11. Jhdt. bis nach Sri Lanka, Malaysia und Java ausgriff und mit dem chinesischen Kaiserhof Gesandtschaften austauschte. Fast tragisch erscheint die Geschichte des letzten Hindugroßreiches von Vijayanagar, das Altindien zwei Jahrhunderte lang gegen den Islam verteidigte, ehe es in der Schlacht von Talikotta unterging. Wir leben hat in der Epoche des Kali-yuga.
Natürlich wird man nicht mit allen Wertungen der Autoren übereinstimmen müssen. Dass der von den Autoren hoch gelobte Kaiser Ashoka, der den Buddhismus im 3. Jhdt. vor der Zeitrechnung als Staatsreligion einführte, Kontrolleure in seinem Reich danach fahnden ließ, ob seine Untertanen auch nicht zu viel Fleisch aßen, macht ihn für mich zum ersten Gutmenschendespoten. Sehr aktuell. Auch der Nehru-Sozialismus, der Indien zwei Generationen Wohlstand kostete, kommt meiner Ansicht nach etwas zu gut weg. Trotzdem gehört das letzte Kapitel, das die Geschichte des unabhängigen Indiens zwischen 1947 und 1998 beschreibt zum Besten, was es darüber zu lesen gibt.
Niemand wird das vorliegende Buch in einem Rutsch lesen wollen. Eigentlich ist es mehr ein Kompendium, mit dem man sich über allen denkbaren Fragen zur indischen Geschichte informieren kann. Um dies zu erleichtern, haben die Autoren dem Buch ein geradezu monumentales Register und eine ganze Reihe von Karten beigefügt, die fast einen graphischen Abriss der indischen Geschichte gleichkommen. .
Alles in allem ein großer Wurf, unüberholt und wegweisend, das mit Abstand beste Sachbuch zum Thema. Man lese nur mal zum Vergleich den entsprechenden Band der Fischer Weltgeschichte (Bd 17: Indien), dann wird klar was gemeint ist. Nur einen Nachteil hat das vorliegende Buch: um es in den Rucksack zu packen, wenn man durch Indien reist, ist es einfach zu schwer Aber man kann sich ja immer noch die Taschenbuchausgabe kaufen.