Gause: Königsberg in Preußen

Königsberg in PreußenEs gibt Wesen, die sind gänzlich ausgestorben, und nur noch in der Erinnerung gegenwärtig: der Vogel Rock, der Raptor, der Dodo. Ähnlich verhält es sich mit Städten: Babylon, Angkor, Karthago, Khanbalic, vorbei, verweht. Es gibt aber auch Wesen, die sind tot und leben doch weiter als ein Zerrbild ihrer selbst. Hollywood nennt solche Erscheinungen Zombies. Auch unter den Städten gibt es Zombies – urbane Agglomerationen, die einen geschichtsträchtigen Ort bedecken ohne mit dem identisch zu sein, was die Geschichte dieses Ortes ausmacht. Eine solche Stadt ist Königsberg alias Kaliningrad.

Königsberg, die siebenhundert Jahre alte Metropole Ostpreußens, verschwand im letzten Jahr des Zeiten Weltkrieges von der Oberfläche der Erde. Systematisch zerbombt und zerstört, von ihren Bewohnern „gereinigt“ steht heute an ihrem Ort eine Stadt, die den Namen eines kommunistischen Verbrechers trägt: Kaliningrad. Das vorliegende Buch beschwört die Erinnerung an eine europäische Metropole im Osten Europas, die in der Geschichte des Baltischen Meeres eine ebenso bedeutende Rolle spielte wie in der Hanse und später im

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entstehenden preußisch-brandenburgischen Staatswesens. In zehn Kapiteln folgt der Leser der Entwicklung der Stadt von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zu ihre Untergang unter den Hammerschlägen der Roten Armee: die drei Stadtteile Altstadt, Löbenicht und Kneiphof werden gegründet, Dom und Stadtmauer entstehen, die Stadt rebelliert gegen die Deutschordensmeister und dann gegen den Große Kurfürsten. Deutsche, Dänen, Holländer, Polen und Altpruzzen bilden über Jahrhunderte hinweg das demographische Ferment einer multikulturellen Stadt, die in ihrer Blütezeit zwar weniger Einwohner als Danzig, aber erheblich mehr als Riga oder Reval hatte. Höhepunkte ihrer Geschichte waren die Königskrönung Friedrichs I in Königsberg (1701), das Wirken Immanuel Kants, des größten aller Philosophen gerade in dieser Stadt am Rande Europas und der Beginn der Befreiungskriege nach dem Desaster der Grand Armee 1812/3, die u.a auch in Königsberg ihren Anfang nahmen. Der augusteischen Epoche des Friedens und des Aufbruchs in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. folgten der erste Weltkrieg , die Revolution, die schwache Republik und schließlich die Machtergreifung der Nazis, lauter Schritte auf einen Weg in den Untergang, der 1945 in unfassbarer Brachialität über der Stadt zusammenschlug. „Es mag disziplinierte sowjetische Truppen gegeben haben. Die Königsberger haben solche nicht kennen gelernt“, schreibt Fritz Gause im letzten Kapitel „Die sterbende Stadt“: „Sie erlebten nur wüste Haufen entfesselter Unholde, zur Rache aufgepeitscht, raubend, plündernd, Frauen schändend, Brände legend, bar jeder Ordnung und jeder vernünftigen Überlegung. Viele bekannte Königsberger zogen den Freitod dem Schrecken des hilflosen Ausgeliefertseins an einen siegestrunkenen Feind vor. Tausende wurden grausam misshandelt, nicht wenige ermordet, In den Maßnahmen, mit denen die neuen Herren ihre Herrschaft zu errichten begannen, ist kein System zu erkennen. Ihr Kennzeichen war die absolute Willkür. Was bisher Inhalt des Lebens und Ordnung des sozialen Gefüges gewesen war, galt nicht mehr, alles war Beute des Siegers, Eigentum und Wohnung, Familie und Freundschaft, Leib und Leben.“(S.230) Von den über einhunderttausend Zivilisten, die zum Zeitpunkt der Kapitulation in Königsberg verblieben warne, überlebte nur ein Viertel die Torturen, den Hunger und die Winterkälte des ersten Jahres. Sie wurden mit dem Rest der ostpreußischen Bevölkerung 1947 außer Landes geschafft.

Das vorliegende Buch versucht mit seinen Geschichten, seinen Anekdoten, seinen zahlreichen Bildtafeln und einem sorgfältig ausführlichen Register die Erinnerung an eine Stadt zu bewahren, die zum Opfer des rechten und des linken Totalitarismus wurde. In jeder Zeile des Buches ist die Hingabe zu spüren, mit der einer verlorenen Heimat gedacht wird – mit jeder Seite spürt der Leser aber auch die Vergeblichkeit dieses Gedenkens, denn die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen hat ihre einstmals nordöstlichste Großstadt längst vegessen.

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