Es gibt nur ganz wenige moderne Mythen, die es an Dramatik und Lebenskraft mit der Geschichte der Meuterei auf der Bounty aufnehmen können. Es gehört deswegen schon Mut und Selbstvertrauen dazu, nach drei Verfilmungen, zahlreichen Dokumentationen eine Gesamtdarstellung vorzulegen, die auch dem Bountykenner noch Neues bieten will. Wird dieser Einspruch eingelöst? Meiner Ansicht nach fünfmal ja.
Zunächst einmal besticht das historische Gesamtpanorma, in das die Geschichte der Bounty eingebettet wird. Von der letzten Reise Kapitän Cooks, über die Septembermorde in Paris, die sich parallele zum Bounty Prozess in England vollziehen bis zur Beschießung Kopenhagens durch Lord Nelsons, an der auch Kapitän Bligh teilnimmt, erscheint die Weltgeschichte als grandioses Bühnenbild, vor dessen Hintergrund sich die Geschehnisse um die Bounty vollziehen. Sodann wird das Bountydrama in kaum überbietbarer Vollständigkeit geschildert. Von der Planung des Brotbaumexportes durch den Botaniker Joseph Banks über die eigentliche Meuterei, von der Strafexpedition der Pandora, die ab 1791 die Meuterer in der Südsee jagt, über den Kriegsgerichtsprozess bis zu Blighs zweiter Reise nach Tahiti, über das Schicksal der Fletcher Getreuen auf Pitcairn bis zu Blighs zweiter Meuterei während seiner Amtszeit als Gouverneur von New South Wales wird dem Leser rein gar nichts vorenthalten.
Ergänzt wird diese sachliche Opulenz drittens durch zahlreiche sorgfältig recherchierte und gut lesbare Kurzbiographien nahezu sämtlicher Protagonisten, die auch nur von Ferne etwas mit der Bounty zu tun hatte. Das betrifft nicht nur Bligh oder Christian sondern auch den schnutigen Steuermann Fryer, das abenteuerliche Leben des Kadetten Thomas Hayward oder die Karriere des Meuterers Peter Heywood, der nach der Verhängung der Todesstrafe begnadigt wurde und es in der englischen Marine bis zum Kapitän brachte.
Besonderen Wert legt die Autorin viertens auf die Entstehung und Umdeutung des Bounty-Mythos, die schon wenige Jahre nach dem Kriegsgerichtsprozess einsetzte. Schon zu Lebzeiten wurde Bligh selbst Opfer heftiger Kampagnen, die von den Familien der Meuterer angezettelt worden warne, während sich sein Antipode Christian in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr zu einer geheimnisvollen und tragischen Figur veränderte Theaterstücke, Romane, Traktate erscheinen und selbst Lord Byron, verstand sich als literarischer Fletcher Christian und trat mit romantischen Gedichten über die Bounty hervor – und das umso mehr, als nach der Wiederentdeckung der Bountymeuterer auf Pitcairn ab 1808 immer phantastischere Informationen über das Südseeidyll des John Adams nach Europa dringen.
Wie die Autorin diesem Kleinmädchenmythos zu Leibe rückt, gehört fünftens zu den stärksten Passagen des Buches. Denn wie sich aus den ausführlich rekonstruierten und widersprüchlichen Erzählungen von John Adams und vor allem aber aus den Tagebücher des Kadetten Young ergibt, waren die ersten Jahre der Pitcairn Flüchtlingsgemeinde aus neuen Meuterern, elf Frauen und sechs männlichen Tahitianern eine einzige Blut- und Gewaltorgie gewesen. Dass die polynesischen Frauen nicht freiwillig mit dem Meutererpöbel auf Tour gegangen sondern brutal entführt worden waren, gibt der ganzen Geschichte übrigens einen ganz anderen Anstrich. Auch was das Südseeidyll von John Adams betrifft, so referiert die Autorin genügend Augenzeugen, die schon einige Jahre nach der Wiederentdeckung der Meuterer auf die durchaus dunklen Flecken im Postkartenidyll dieses Südseeparadieses hinwiesen
So bleibt am Ende nur noch die alles entscheidende Frage: wieso gab es überhaupt die Meuterei? Caroline Alexanders versucht eine Antwort von zwei Seiten. Fletcher Christian meuterte, weil er sich wie viele Matrosen der Bounty auch nach den Schönheiten Tahitis sehnten UND weil Kapitän Bligh eben NICHT der Schinder war, als den ihn die Nachwelt sah. Er war im Gegenteil stets bemüht, es seinen Leuten recht zu machen, was in Verbindung mit einer gewissen Selbstherrlichkeit und Wankelmütigkeit noch immer der beste Nährboden für Meutereien ist. Alles in allem eine packende, man möchte fast meinen: eine unendliche Geschichte, die in dem vorliegenden Buch in einer kaum noch steigerungsfähigen Anschaulichkeit präsentiert wird. Sein einziger Nachteil: Bounty-Anfänger sind mit diesem Konvolut zweifellos überfordert, ihnen sei zur Einführung die Romanbearbeitung von Nordhoff und Hall Schiff ohne Hafen“ empfohlen.