Die Entdeckungsgeschichte Amerikas wird vorwiegend als die Erkundung Mittel- und Südamerikas erzählt. Die Landung des Kolumbus auf Kuba, Cortez‘ Zug ins Aztekenreich, die Gefangennahme des Inkakaisers Athahualpa durch den Konquistador Pizarro ‚ das sind die Stories, die in die Weltgeschichte eingegangen sind. Was aber war mit Nordamerika? Was war mit den bescheidenen Indianerkulturen am Hudson und St. Lorenz Strom, mit den Franzosen, Holländern und Engländern, die im Norden des neu entdeckten Kontinentes das wahre Amerika aufbauten? Wer darüber mehr erfahren will, ist bei dem Klassiker von Raymond Cartier bestens aufgehoben. Auf 351 packend zu lesenden Seiten führt der Autor den Leser von der indianischen Welt vor der Ankunft der Europäer bis an die Schwelle des 18. Jhdts, wobei die Aktivitäten der Holländer, Spanier, Franzosen und Engländer in gesonderten Kapiteln behandelt werden Das Buch beginnt allerdings mit einer Schilderung des indianischen Lebens, das allen Karl May Bewunderern schwer aufstoßen wird. Denn da ist nicht von Winnetou und Apanatschi die Rede sondern von Völkern im Naturzustand der ethischen Barbarei, die ihre Nachbarstämme, wo immer das nur möglich war, ausrotteten und die Gefangenen zu Tode quälten. Pfui, denkt man, wie politisch inkorrekt! Aber auch die Europäer bekommen ihr Fett weg, allen voran die Spanier, Holländer und Engländer, die keine Sekunde an die älteren Rechte der Eingeborenen dachten, als sie die Territorien an der Ostküste und im Süden Nordamerikas in Besitz nahmen. Die Spanier durchzogen um 1540 die Weiten Tennessees und New Mexikos auf der Suche nach den Goldenen Städten von Cibola und fanden doch nur verelendete Pueblos oder kannibalische Indianer. De Soto entdeckte den Mississippi, Coronado durchquerte Kalifornien, doch so sehr sie auch suchten ‚ das verheißenen Gold war nicht zu finden. Und am Ende sprang nur die öde Kolonie New Mexiko mit der menschenleeren Hauptstadt Santa Fe heraus. Am nördlichen Ende des amerikanischen Kontinentes entdeckte der Franzose Cartier am Tag des heiligen Laurentius im Jahre 1533 den St. Lorenz Strom, sein Nachfolger Champlain gründete 1608 die Stadt Quebec, Soldaten, Siedler und Missionare suchten im späteren Kanada Fuß zu Fassen und scheiterten doch an der Widerspenstigkeit der Irokesen und den Härten des kanadischen Winters. Allein die Erfindung des Filzhutes in Europa und die daraufhin explosiv steigende Nachfrage nach Biberfellen aller Art sorgte für die Weiterexistenz Neufrankreichs. Französische Expeditionen wie die von Joliet 1673 zum Mississippi oder die von La Salle 1681 bis zum Golf von Mexiko blieben ebenso folgenlos wie die Proklamation der neuen Kolonie Louisiana im zentralen Nordamerika. Denn inzwischen hatten sich fast 250.000 englische Siedler an der Ostküste niedergelassen, längst waren die bescheidenen Kolonien der Schweden und der Holländer ( 1624: Gründung von New Amsterdam, dem späteren New York ) annektiert, längst waren die 13 Neu Englandstaaten entstanden, dreizehn in sich extrem unterschiedliche Gebilde mit religiöser Bigotterie, Handwerk und Landwirtschaft im Norden und großzügig feudalen Lebensstilen auf der Grundlage von Plantagenwirtschaft im Süden. Vorgeführt werden diese Kolonien aber vorwiegend auf der Ebene der historischen Miniatur: die Heirat von John Rolfe mit der Indianerprinzessin Pocahontas, die Entwicklung des Virginia Tabaks, die wahre Geschichte des Mayflower Paktes, der Hexenwahn von Salem, die Lebensweise der Händler und Trapper – schier unerschöpflich ist das Reservoir der Anekdoten, die Cartier vor dem Leser ausbreitet. Auch wenn man sich in dem Buch ein paar Karten wünschen würde, für Liebhaber Nordamerikas und Freunde einer epischen Geschichtsbetrachtung allererste Wahl.