Harprecht: Georg Forster oder die Liebe zur Welt

Harprecht Geporg ForsterWenn man es recht bedenkt, ist die biographische Tiefenschärfe doch eine relativ junge Erscheinung der Kulturgeschichte. Wer vor 1750 lebte, ist viel zu weit weg – selbst die Monarchen und Volks(ver)führer, über die es reichlich Quellen gibt, erscheinen der Nachwelt eher wie Scherenschnitte, so blutleer und abstrakt wie Zeichnungen in eine Comic Strip. Auf der Ebene des Menschlichen wirklich fassbar werden die Akteure, die Wissenschaftler, Literaten, Soldaten, Halunken oder die einfachen Leute, erst in der Morgenröte des bürgerlichen Zeitalters, die sich damit auch als eine Epoche des Individualismus erweist. Nun treten sie plötzlich hervor, die Unikate mit ihren Zipperleins, ihren Nachbarn, ihren Träume und Niederlagen, abgespiegelt durch eine wahre Unzahl von Zeugnissen und Quellen, so dass sie aus der Distanz erscheinen wie eine quirlige Legion der Abertausenden, von denen ein jeder sein Scherflein zum Gang der Geschichte hat beisteuern dürfen.
Ein solches Mitglied aus der geschichtlichen Legion der Abertausenden auf einer mittleren Bedeutungs- und Prominentenebene ist der deutsch-englische Reiseschriftsteller und Politiker Johann Georg Foster. Er lebte nur vierzig Jahre (1754-1794), hat aber in dieser Zeit mit Cptn. Cook auf dessen zweiter Reise die Welt umrundet, war Professor in Polen, ist mit Alexander von Humboldt durch Europa gereist, hat sich der Französischen Revolution bis über die Grenzen des Landesverrates hinaus verschrieben, um im Januar 1794 gerade noch rechtzeitig in Paris im Bett zu sterben, ehe ihn die Guillotine der jakobinischen Staatsterroristen ereilte. Ein wahrhaft pralles Leben voller Ruhm und Versagung, Angst und Gier, das in seiner Dichte und seinen Widersprüche ein ganzes Zeitalter repräsentiert.
Klaus Harpprecht hat es unternommen, dieses Leben und seine Zeit in einer monumentalen Biographie von über 600 Seiten zusammenzufassen. Alles fließt in dieser romanhaft und detailversessenen Lebensbeschreibung wie in einem großen See zusammen – der querulatorische Vater Reinhold Forster, Marat und Dr. Johnson, Lichtenberg und Cook, Darymple und Banks, Lord Sandwich, Casanova, Goethe und Herder, Joseph II und Friedrich der Große und jede Menge Berühmtheiten mehr erscheinen in der Mitte oder an der Peripherie der Forsterschen Existenz, werden liebevoll über ganze Seiten oder kurz und prägnant skizziert, ohne dass der Autor seinen Protagonisten aus den Augen verlöre. Ihm, Georg Foster, gilt zweifellos die Sympathie des Autors, in seiner Liebe zur Welt und seinem Durst nach Gerechtigkeit erscheint er Harpprecht als ein wegweisendes Vorbild in frühbürgerlicher Zeit. So kommt Forster in dem vorliegenden Buch auch reichlich selbst zu Wort, was fast immer unterhaltsam und witzig ist – wenn er etwa seine Zeitgenossen als halbe Kahlköpfe mit „Storchennestfrisuren“, als „ekelhaft eitel“ oder die Damen in Wien als notorische „Löffler“ (Schmuser) beschreibt. Dabei behält er bei allem verbalen Überschwang in seinen Aufzeichnungen immer einen klaren Blick, ohne sich von den Stereotypen seiner Zeit die Wahrnehmung vernebeln zu lassen. Das Südseeweib“ etwa, der Inbegriff der paradiesischen Weiblichkeit, erscheint in den Aufzeichnungen Forsters als eine zweifelhafte Verlockung, die mitunter „erbärmlich stank“ und gerne nach den Flöhen und Zecken in ihren Haaren griff, um sie mit den Zähnen aufzuknacken. (S.107) Mitunter treibt Harpprecht als der Biograph die Detailversessenheit vielleicht wenig weit, wenn er etwa auf S. 287 über einen Besuch Forsters in einem Bergwerksstollen vermerkt: „An einem Absatz aß er ein kleines Butterbrot, das ihm neue Energien gab.“ Was solls? Dafür ist die Opulenz der detailgetreuen Beleuchtung nachgerade überwältigend, weswegen das vorliegende Buch auch als eine Kulturgeschichte des Ancien Regime in dem Augenblick gelesen werden kann, in dem ihm allenthalben das Totenglöcklein läutete.
Leider läutete das Totenglöcklein, wenn man es genau nimmt, auch schon früh über Georg Forsters Leben. Durch die entbehrungsreiche Weltumseglung lebenslang geschwächt, litt er an Entzündungen und Koliken aller Art, dazu noch an einem guten Schuss manisch-depressiven Gefühlsüberschwangs, der ihm den Umgang mit seiner Umwelt mitunter reichlich erschwerte. Sonderliches Glück in der Ehe hat er auch nicht gehabt, denn seine Gattin Therese, geborene Heyne; verließ ihn wegen eines Nebenbuhlers. Als dann die Revolution ausbrach, eröffnete ihm die Weltgeschichte endlich das scheinbar zureichende Betätigungsfeld für seine enthusiastischen Instinkte. Dabei war er ein solcher Feuerkopf, schrieb Schiller, dass er, immer dann wenn ihm die Treppe zu lang war, sofort vom Dach sprang (S. 606) So ist er am Ende dann vom turbulenten Lauf der Revolutionsgeschichte genau so beiläufig zerknackt worden wie es die tahitianischen Frauen mit den Läusen in ihren Haaren machten.

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