Den nationalsozialistischen Völkermord zu begreifen, ist fast unmöglich, schrieb Raymond Aron. Die erschreckenden und nach Millionen zählenden Opferzahlen bleiben wie alle Zahlen ohne emotionales Echo. Und allein die Aneinanderreihung von Einzelschicksalen kann die Gesamtschau nicht ersetzen. Es ist die große Leistung des vorliegenden Buches beide Perspektiven so miteinander zu verbinden, dass sich für den Leser zum ersten Mal ein Gesamtbild des großen Verhängnisses ergibt, dass vor gerade erste einmal 60 Jahren über die europäische Judenheit hereinbrach.
Der erste Teil „Täter“ beginnt mit einer sehr gerafften biographischen Skizze des Haupttäters Adolf Hitlers. Denn ganz im Unterschied zur Volksmeinung, nach der die Hilterschen Paladine Göring, Himmler. Heydrich und Goebbels an allem schuld waren, war es einzig und allein Hitlers Wille, der an den Wendepunkten der Problemgeschichte, im Jahre 1938 und 1941, den Völkermord ins Rollen brachte. Aber Hitler hätte den Holocaust niemals alleine ins Werk setzen können, dafür bedurfte es einer nach Hunderttausenden zählenden Schar von Helfern – von obersten SS-Chargen über ergebenen Bürokraten und einer großen Schar charakterlich Abartiger, die ihren Dienst in den Vernichtungslagern mit sadistischer Freude versahen. Allerdings wäre der Völkermord auch nicht möglich gewesen ohne ein Volk, das – wie Hilberg immer wieder betont – so gut es ging die Augen vor dem Verschwinden einer Minderheit verschloss, die Beute wie freie Wohnungen, bessere Berufschancen oder Vermögensgewinne aber gerne mitnahm. Besonders deprimierend ist der immer aufs Neue belegte Befund, dass der humane Widerwille gegen das bestialische Töten, der selbst bei Fanatikern und Aktivisten anfänglich zu bemerken war, mit der Gewöhnung an das Morden, einfach verschwand.
Auch die mit dem Dritten Reich verbündeten Völker gehören für Hilberg in den Täterkreis, wobei die Schuld der einzelnen Völker aber erheblich differiert. Kein unterworfenes Land protestierte offen gegen den NS-Rassenwahn, viele aber wie etwa in Italien, Bulgarien, in Rumänien und auch in Frankreich – versuchten mit beträchtlichem Erfolg, ihre „eigenen“ nationalen Juden vor dem Abtransport nach Osteuropa zu retten. Als ein ewiges Ruhmesblatt der dänischen Geschichte erscheint in diesem Zusammenhang die kollektive Rettungstat, die durch die Verschiffung der einheimischen Juden nach Schweden 7000 Menschen das Leben rettete.
Das Kapitel über die „Opfer“ beginnt mit dem großen Teil derer, die gleich am Anfang den Machtbereich des Nationalsozialismus verließen und damit dem schlimmsten entgingen, darunter jede Menge Nobelpreisträgern und Koryphäen aus allen kulturellen Bereichen. Zurück aber blieben von den insgesamt 16 Millionen Juden weltweit immerhin sieben Millionen Juden in Europa, die im Verlaufe des Weltkrieges immer schutzloser unter die Herrschaft der Nationalsozialisten gerieten. Sechs von ihnen haben den Völkermord nicht überlebt, und die zahllosen biographischen Kurzskizzen, mit denen Hilberg diese Zahl mit Leben ( oder sollte man besser sagen: mit Tod ) füllt, wird niemand so schnell vergessen. Unter den zurückbleibenden besaßen die Halbjuden und die konvertierten Angehörigen von Mischehen in Deutschland sogar noch lange recht gute Überlebensschancen, ganz anders war es im Osten, wo man sich mit dergleichen Feinheiten gar nicht aufhielt. Vor der anrollenden Mordmaschine flüchteten Zigtausende Menschen in den Selbstmord, wobei es bald verpönt war, den Selbstmord noch vor dem Abtransport durchzuführen, weil sonst ein anderer auf die Todeslisten kam. In der ersten Phase der Gettoisierung erwiesen sich die Frauen als erheblich widerstandsfähiger, unter den Bedingungen des Lagers war dies anders, da die meisten Frauen zusammen mit den Kindern sofort selektiert und ermordet wurden. Noch schrecklicher als diese Erörterung liest sich das Kapitel über das Schicksal der Kinder, die verelendet und ohne Eltern in den Ghettos dahinvegetierten ( vgl. S. 163). Die geradezu reibungslose Funktion der Vernistungsmaschinerie aber wäre, das ist wahrscheinlich die brisanteste These des Buches, undenkbar gewesen, ohne die Mithilfe der Judenräte und der Judenpolizei in den großen Ghettos von Warschau, Lodz, Bialystok und anderswo.
Erst ganz zuletzt, als die Auslese“ nur noch die Kräftigsten übrig gelassen hatte und sich jede Illusion über das wahre Schicksal der Juden verflüchtigt hatte, wurde gekämpft und opponiert. Der litauische Jude Slapoberski nahm schon nackt am Grubenrand kämpfend drei Häscher mit in den Tod( S. 199). Von den bulgarischen und rumänischen Juden überlebte ein großer Teil, weil sie sich einfach nicht mehr an den Sammelstellen einfanden und die Deutschen nicht die Kapazitäten besaßen, sie überall im Land zu suchen.
Im dritten Teil „Zuschauer“ thematisiert Hilberg das moralische Problem der Hilfe durch Unbeteiligte, wobei er zwischen einer beiläufigen Hilfe und einer aktiven Unterstützung von Flüchtlingen unterscheidet. Schrecklich zu lesen, dass sieben protestantische Landeskirchen im Ditten Reich die sogenanten „Judenchristen“, d. h. konvertierte Christen, aus ihrer Kirche in der Stunde der Verfolgung ausschlossen. Es gab aber Unbeteiligte wie den heldenhaften Berliner Bischof Bernhard Lichtenberg, der seinen Protest gegen das Massenmorden mit dem Tod bezahlte. Obwohl Boten“ aus dem Innern des Regime wie aus den unterworfenen Völkern über das Rote Kreuz und die Schweiz die Alliierten früh über die unglaublichen Dimensionen des anlaufenden Holocaust unterrichteten, unterblieb eine gezielte Bombardierung der Vernichtungslager. „Für die Alliierten war die Rettung der Juden kein vordringliches Problem“, kommentiert Hilberg. Herbe Kritik trifft auch die katholische Kirche und Papiost Pius XII, der in seiner Weihnachtsbotschaft 1942 nur sehr verblümt von Massenverfolgungen gesprochen und die Nazi-Täter nicht beim Namen genannt habe. Hillberg unterschlägt bei seiner harschen Kritik an Papst Pius XII allerdings , dass der Papst 1943, als die Deutschen in Rom die Juden jagten, anordnete, die Tore der Klöster zu öffnen um flüchtenden italienischen Juden zu verstecken.
Alles in allem kann man dieses Buch nur mit Erschütterung lesen. Die Kombination von soziologischer Analyse und konkreten Fallbeispielen verhindert jede Immunisierung des Lesers gegen die Sachverhalte und verwandelt die Lektüre fast in ein Schmerzerlebnis. Ein großartiges und notwendiges Buch, zu dessen Pflichtlektüre man jedem Rechtsradikalen verdonnern sollte.