Noch vor einhundertfünfzig Jahren war Tibet der letzte weiße Fleck auf der Landkarte. Die Quellen des Nils waren gefunden, Timbuktu war erreicht und Australien durchquert. Nur das geheimnisvolle Schneeland hinter den höchsten Gipfeln der Erde bewahrte seine rätselhafte Abgeschiedenheit gegenüber den imperialistischen Mächten der eurasischen Landmasse.
Genau hier, etwa kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts setzt das vorliegende Werk ein und erzählt die Geschichte vom Griff nach Lhasa“, d. h. von der erzwungenen Öffnung Tibets – angefangen von den indischen Pandits, die als britische Spione mit Geodesie-Instrumenten in den Gebetstrommeln als Mönche getarnt durch Zentralasien reisten bis zu den barbarischen Zerstörungsorgien, mit denen die maoistischen Roten Garden Tibet in den Sechziger Jahren des 20. Jhdts. heimsuchten. Es ist also alles in allem eine traurige Geschichte, weil sich am Ende diese großartige Kultur der Moderne öffnen musste und unter der Knute der chinesischen Herrschaft möglicherweise ihre Seele verlieren wird.
Aber es ist auch eine ungemein spannendes Buch, weil es schier unglaubliche Abenteuer und Geschichten zu einem packenden Gesamtbild menschlichen Wagemuts und Zuversicht bündelt (Dass sie für Tibet so schlecht ausgehen würde, war ja nicht unbedingt abzusehen.).
Younghusbands Expedition nach Lhasa, Przewalskis vergebliche Vorstöße von Norden, Sven Hedins abenteuerliche Reise auf einem Yakboot den Tsangpo herunter bis zum Pantschen Lama nach Schigatze, schließlich Heinrich Harrers „Sieben Jahre in Tibet“ – lauter alte und neue Geschichten aus dem Traumbuch menschlicher Abenteuer wechseln einander ab wie ein unabschließbares Kaleidoskop menschlicher Erlebnisfähigkeit.
Umso deprimierender ist der Ausblick den Hopkirk im letzten Kapitel seines Buches bietet. Denn am Ende seiner langen Geschichte scheint sich Tibet in den späten Achtziger und frühen Neunziger Jahren unter dem Druck der chinesischen Fremdherrscher zu einem Pauschaltourismusziel für gut betuchte Besucher aus aller Welt zu entwickeln. Die Reise nach Lhasa, früher ein Abenteuer auf Leben und Tod, ist auf eine Flugstrecke von wenigen Stunden und seit der Eröffnung der Tibetbahn fast zu einer Allerweltsfahrt geworden.
Auch wenn es kein Happyend gibt, kann ich dieses Buch jedem, der sich für Tibet interessiert, uneingeschränkt empfehlen. Die komprimierte landeskundliche Einleitung am Beginn des Buches gehört zum Besten, was es über dieses Thema zu lesen gibt, die Zusammenschau der Entwicklungen internationaler Politik mit den Unwägbarkeiten individueller Schicksale ist geradezu mustergültig gelungen. Nur im Register sind merkwürdigerweise nicht alle Namen verzeichnet, von denen im Text berichtet wird.