Was es mit der Geschichtsschreibung auf sich hat, wird für mich am ehesten an der Nobelpreisverleihung des Jahres 1901 deutlich. Damals erhielt Theodor Mommsen für seine „Römische Geschichte“ den Nobelpreis – aber für Literatur! Das heißt, Geschichtsschreibung ist im Unterschied zur historischen Forschung, wenn sie den gelingen soll, immer literarische Gestaltung eines schier unendlichen Sachfeldes. Was dabei an so genanter ( und ohnehin nie erreichbarer ) Objektivität verloren geht, wird durch die anschauliche Wiedererschaffung der Vergangenheit mehr als aufgewogen.
Ein Werk, das dieses Wiederweckung der Vergangenheit als Kunstform in womöglich noch höherem Maße als der große Mommsen verwirklicht, ist Ricara Huchs dreibändige deutsche Geschichte von den Anfängen in der Frankenzeit bis zum Untergang des alten Reiches.
Der vorliegende Band „Untergang des Römischen Reiches deutscher Nation“ bildet den letzten Teil der Trilogie und behandelt die Epoche vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806.
Schon die beiden Rahmenkapitel, mit denen Ricarda Huch das Werk versieht, belegen den geistigen Horizont der Autorin: sie beginnt mit einem Portrait des Hobbeschen Leviathans (1652) und endet mit dem Hegelschen Entwürfen zum „sittlichen Staat“ in der „Phänomenologie des Geistes“ von 1806, womit zugleich das Leitmotiv des Buches abgesteckt wird: es geht um die Entstehung des modernen Staates, der im Leviathan noch rein mechanistisch als Gewaltgebilde erscheint, während er im Revolutionsstaat die individuelle Willensentgrenzung bereits als potenziertes Wesensmerkmal in sich aufgenommen hat.
Soweit der geschichtsphilosophische Ansatz, der sich in dieser Verkürzung vielleicht etwa abstrakt anhört. Doch dieser thematische Rahmen wird so anschaulich gefüllt, wie man es sich nur wünschen kann, mehr noch: die Geschichte zwischen 1650 bis 1806 entrollt sich als ein opulentes Drama auf allen europäischen Bühnenbildern mit Deutschland als Zentrum, durchaus auch mit Helden (Prinz Eugen, Maria Theresia) und Schurken (Ludwig XIV), modernen Tyrannen (Peter der Große) und gescheiterten Wohltätern (Joseph II), in dessen Abläufen sich die Strömungen der neuzeitlichen Modernisierungen immer extremer stauen, bis sie schließlich in der großen Revolution zum Durchbruch kommen.
Chronologisch beginnt das Buch mit der französischen Hegemonie um 1680, mit der folgenreichen Vergewaltigung der deutschen Westgrenzen, dem Raub des Elsass, der Verwüstung der Pfalz und dem Ansturm der Türken. Es folgt der Aufstieg Österreichs zur Großmacht, schließlich das Phänomen Preußen, das sich in der Sichtweise Ricarda Huchs immer auf Kosten des Reiches nährte, während Österreich die undankbare Rolle zufiel, sich um die eigene Macht und um das Reich zugleich zu kümmern. Wilhelm III und die Glorios Revolution“, Peter der Große und der Aufstieg Russlands verändern das europäische Mächtegefüge, bis durch den Raubkrieg Friedrichs II der deutsche Dualismus entsteht. Kapitel über Leibniz, Pestalozzi, Mozart und andere verdeutlichen innerhalb dieser weltgeschichtlichen Abläufe die kulturgeschichtlichen Entwicklungslinien. Am Ende steht nach dem Ausbruch der Französischen Revolution und dem Siegeslauf Napoleons der Zusammenbruch des Alten zugunsten eines ungewissen Staatsvoluntarismus, der seinen Teil zu den Massakern des übernächsten Jahrhunderts beitragen wird.
Diese Achsenzeit der Weltgeschichte von knapp einhundertfünfzig Jahren in souveräner Sachkenntnis und überzeugender Strukturierung zu ordnen, ist eine geradezu klassische Leistung- ganz zu schweigen von dem besonderen Duktus der Sprache, die den Leser wie eine überirdische Stimme aus dem off durch die Jahrhunderte leitet. Dafür als nur ein Beispiel unter vielen der Satz, mit dem Ricarda Huch das Kapitel über den Peter den Großen einleitet. „Als an der östlichen Grenze des Römischen Reiches deutscher Nation der Eisbär, der dort hauste, sich aufrecht stellte, seinen zotteligen Kopf und seine Pranken schüttelte, sah man, dass das Ungeheuer viel kolossaler war als man gedacht hatte, solange es schlafend dalag oder sich im Innern seines verschneiten Landes herumschlug.“(S.100) So muss Geschichte erzählt werden, damit die Leser nicht das Weite suchen! In der großhistorischen Gesamterzählung Riarda Huchs ist tatsächlich alles vorhanden, was uns auch an Romanen und Epen fasziniert: Handlung, Enttäuschung, Dramatik und sogar ein Schuss Melancholie, wie der letzte Satz des Gesamtwerkes beweist: „Wenn der letzte römische Kaiser vom Throne steigt, so verkündet, die Sage, beginnt die Herrschaft des Antichrist. Als Kaiser Franz im Jahre 1806 die Kaiserkrone niederlegte, begann ein neues Zeitalter. Die Heiligtümer des Reiches, Diadem und Szepter und Reichsapfel, die das Volk jahrhundertelang mit mythischen Phantasien geschmückt hatte, gingen unter – aber unvergänglich schimmern sie aus der Tiefe über die hinflutenden Wogen der Zeit.“ (S. 337f.)
Muss man noch mehr sagen?