„Ich bin hier mit meinen Gedanken allein und kann sie nicht bannen“, schrieb Henri Pirenne am 31.1.1917. „Sie werden mich durch meinen Gram, die Langeweile und die Sorgen um meine Familie noch so sehr belasten, dass ich nervenkrank oder verzweifelt werde.“ Der französische Historiker Henri Pirenne befand sich zur Zeit der Abfassung dieser Sätze in deutscher Internierung, sein Sohn war gefallen, und der Alptraum des Weltkrieges schien kein Ende zu nehmen. Nur um nicht am eigenen Kummer zu verzweifeln, begann Pirenne im Gefangenenlager Holzminden im Jahre 1917 Vorlesungen zu halten – ohne Bücher, Notizen, Quellen und Akten und nur aus dem Fundus seiner enzyklopädischen Kenntnisse heraus entführte er seine Mitgefangenen aus ihrer tristen Gegenwart in die Epoche des Europäischen Mittelalters.
Aus diesen Vorlesungen heraus entstand das vorliegende Buch über die Geschichte Europas von der Völkerwanderung bis zur Reformation, ein in neun Bücher gegliederter allgemeinverständlicher und doch detaillierter Abriss von über 1000 Jahren europäischer Geschichte. Der Verzicht auf die Erörterung von fachspezifischen Detailfragen, das völlige Fehlen des wissenschaftlichen Apparates zugunsten eines entschlossenen Erzählduktus haben dabei ein Werk entstehen lassen, dass an Geschlossenheit und Prägnanz seinesgleichen sucht. Personen und Imperien, Städte, Zünfte, Gilden, Märkte, Ideen und Erfindungen haben ihren Auftritt auf der Bühne der mittelalterlichen Geschichte, wobei es für den Laien besonders interessant ist, wie ein großer Kenner die Epoche des europäischen Mittelalters durchgliedert. Alles beginnt natürlich mit „Der Untergang des römischen Imperiums“, gefolgt von „Die Zeit der Karolinger“, in der sich für Pirenne die Grundlegung Europas vollzieht. Damit ist fast schon das Hochmittelalter erreicht, dessen Blüte Pirenne in fünf Büchern darstellt: „Der Feudalismus in Europa“ vermittelt Grundkenntnisse über die Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen der mittelalterlichen Welt. „Investiturstreit und Kreuzzüge“, „Die Entstehung des Bürgertums“ und „Die Anfänge der westeuropäischen Staaten“ thematisieren die Zeit zwischen dem 11. und 13. Jhdt. (Das orthodoxe Europa bleibt außerhalb der Betrachtung ) .Mit dem achten und neunten Buch „Die Europäische Krise“ und„Renaissance und Reformation“ schießt das Werk nach etwa 600 Seiten.
Für mich ein Buch, in dem ich seit zwanzig Jahren immer wider lese, wobei ich es gerne wahllos aufschlage und mich sofort von den anschaulichen Schilderungen des alteuropäischen Lebens gefangen nehmen lasse. Eines der zehn besten Geschichtsbücher, die ich jemals gelesen habe.