Wann beginnt das Mittelalter? Mit dem Einbruch der Germanen in das das Römische Reich? Mit dem Sieg des Christentums, das die Antike definitiv beendet? Oder etwa mit diesem lächerlichen Datum 476 n Chr., das in den Schulbüchern als Beginn des Mittelalters fungiert, weil zu diesem Termin der letzte weströmische Schattenkaiser Romulus Augustulus die Segel strich? Henri Pirenne, der große belgische Mediävist, offeriert in seinem erst posthum im Jahre 1936 erschienen Werk eine bessere Antwort. Das Mittelalter endete erst mit dem Siegeslauf des Islam, der das Mittelmeerbecken spaltete und alle dominanten Reste der Antike nicht nur im Orient sondern auch im Okzident eliminierte.
Eine starke These – wie aber wird sie begründet? Nach Pirennes Auffassung ging zwar das Weströmische Reich im 5. Jhdt. in den Orkus, aber die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hatten überlebt. Die Völkerwanderungsreiche im Westen sahen sich nicht als Neugründungen sondern als Mitglieder einer römisch geprägten Oikumene. Wie die römische Spätantike besaßen sie ein geregeltes und zentral organisiertes Steuerwesen auf der Basis einer funktionierenden Geldwirtschaft, es herrschte eine urbane Schriftkultur und vor allem ein ausgedehnter Handelsaustausch mit den Wirtschaftszentren des Ostens. Zwar war die Oikumene christlich geworden, aber noch immer galt der Kaiser in Ostrom als das Oberhaupt der Völker. Sogar eine Byzantinisierung des Abendlandes, verstärkt durch eine Reihe von syrischen Päpsten und die Reconquista des Justinian im 6. Jhdt. lag im Bereich der Möglichkeiten(S. 65).
Mit all dem war es aber vorüber, als 634 der Arabersturm über die Welt hereinbrach und in einem Siegeslauf ohnegleichen binnen eines einzigen Jahrhunderts ein Weltreich von den Pyrenäen bis zum Hindukusch entstand. Mit Mühe konnten sich Konstantinopel 717 und die Franken 732 gegen die Araber behaupten, aber die Verhältnisse hatten sich unwiederbringlich verändert. Die Einheit der Mittelmeerwelt zerriss, der Handel verebbte, und von den ständigen Angriffen der Sarazenen zermürbt, verlagerten sich die politischen Zentren der europäischen Völker nach Norden. Da die Erträge des Handels fehlten, verfielen die Häfen, die Schulen, die Städte überhaupt, die Geldwirtschaft verschwand fast vollständig und machte einem weitgehenden Naturaltausch Platz, die Menschen verließen die Städte und gingen aufs Land, um ihren Lebensunterhalt anzubauen und gerieten dort unter die Fuchtel von Reitern(Rittern), die sie gegen Überfälle beschützten und dafür Abgaben verlangten. Ein gigantischer Schrumpfungsprozess im damaligen „Kerneuropa“ setze ein, dessen Effekt die Feudalisierung der winzigen christlichen Welt war. Während das frühe Frankenreich am Beginn seiner Geschichte seinen Schwerpunkt zweifellos im Süden, in „Neustrien“ gehabt hatte, verlagerte sich das Machtzentrum des Reiches schon im frühen 8. Jhdt. nach „Austrien“, in den Nordostteil des Reiches und hier war es auch, wo das Hausmeiergeschlecht der Karolinger, aus der Gegend von Maas und Schelde, stammend, seinen geschichtlichen Aufstieg begann. So war nur einhundert Jahre nach dem Beginn des Dschihad auch Europa von Grund auf verändert, geschrumpft, redifferenziert, feudalisiert aber auch auf einen nördlichen Kern zurückgeworfen, aus dem heraus sich wiederum einhundert Jahre später unter Karl dem großen die Neugründung des Abendlandes in bewusster Absetzung von allen oströmisch-orientalisch-byzantinischen Formen vollzog. Die Zeit des Übergangs ist lang gewesen. Man kann sagen, dass sie die ganze Zeit zwischen 650 bis 750 ausfüllt,“ schreibt Pirenne in seinem Schlusswort. In dieser Zeit geht die antike Tradition verloren und neue Elemente gewinnen das Übergewicht. Im Jahre 800 wird die Entwicklung durch die Geburt eines neuen Kaisertums vollendet.“
Natürlich hat diese monumentale These Pirennes, wie der Herausgeber Jaques LeGoff in seiner Einleitung schreibt, auch viel Widerspruch gefunden. Als Denkansatz ist sie jedoch inzwischen in den Kernbestand der Mediävistik eingegangen und als kompakt und überzeugend verfasstes Manuskript gehört Pirennes Werk meiner Ansicht nach zu den zehn wichtigsten und auch interessantesten Büchern, die je über das Mittelalter geschrieben worden sind.