Die Hollywoodproduktion „Operation Walküre“ hat in Oberst von Stauffenberg den beeindruckendsten Exponenten des deutschen Widerstandes effektvoll in Erinnerung gerufen. Es ist nun aber auch an der Zeit, an die zweite dominante Gestalt des deutschen Widerstandes zu erinnern, an Carl Goerdeler, den ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, den Berater des Reichspräsidenten und den politischen Kopf der deutschen Widerstandsbewegung im zweiten Weltkrieg. In der vorliegenden epochalen Biographie, die erstmals im Jahre 1954 erscheinen ist, hat der Historiker Gerhard Ritter, selbst ein Zeitzeuge und Bekannter Goerdelers, Leben und Schicksal des Leipziger Oberbürgermeisters nachgezeichnet, und schon ein oberflächliches Durchblättern des 600-Seiten Werkes zeigt, dass es sich dabei nicht nur um eine politische Biographie sondern auch um ein Standardwerk über den deutschen Widerstand handelt.
Die Stationen der Lebensgeschichte Goerdelers wie sie das vorliegende Buch nachzeichnet, sind schnell erzählt. Geboren 1884 in Marienwerder/Ostpreußen, nimmt Goerdeler am ersten Weltkrieg und den Abwehrkämpfen gegen den neu entstehenden polnischen Staat in Ostpreußen teil. Als juristisch versierter Verwaltungsfachmann macht er schnell Karriere, wird Vertrauter Brünings und Hindenburgs und schließlich in de Endphase der Weimarer Republik zum Oberbürgermeister von Leipzig ernannt. Ein Demokrat nach unserem heutigen Verständnis war Goerdeler nicht, er bejahte das System der Präsidialkabinette und war an deflationären Einsparungsvorschlägen in der tiefsten Weltwirtschaftskrise kaum zu übertreffen. Die Hitlerbewegung lehnte er keineswegs von Anfang ab, er verteidigte sogar die Notwendigkeit des Ermächtigungsgesetztes und ließ sich wie so viele vom inszenierten Pomp des Tages von Potsdam“ täuschen. Persönlich mutig bis zur Bedenkenlosigkeit fand er aber auch nichts dabei, im Jahre 1933 das Hissen der NS-Flaggen auf dem Rathaus zu verhindern und jüdische Mitbürger beim ersten Reichsboykott vor Ausschreitungen der SA zu schützen. Ansonsten arbeitete er wie viele seiner Zeitgenossen nach der Machtergreifung mit den nationalsozialistischen Stellen eng und erfolgreich zusammen, wenngleich ihn der NS-Antisemitismus und die plebejische Gottlosigkeit der Nazigrößen zunehmend abstießen. Es war aber die immer unverhohlene Aufrüstung und der Kriegskurs Hitlers, der Goerdeler schließlich in den Späten Dreißiger Jahren zum Systemkritiker und schließlich zum Widerständler werden ließ.
Wie Ritter immer wieder betont aber war Carl Goerdeler ein Widerständler mit Samthandschuhen. Unablässig reiste er durch Deutschland und Europa, spannte ein verwickeltes Verbindungsnetz und verfasste so viele Denkschriften, dass man über deren Lektüre leicht die Tat hätte vergessen können. Wie man diesen Denkschriften entnehmen kann, konnte sich Goerdeler bis zuletzt nicht entschließen, sein Einverständnis zum Tyrannenmord zu erteilen, bis nach Stalingrad glaubte er allen Ernstes Hitler in persönlichen Gesprächen umstimmen zu können, und von einem Verbot der NSDAP in einem neuen Deutschland riet er ab. Kein Wunder, dass sich zwischen dem Denkschriftenverfasser Goerdeler, der nach den Plänen der Widerständler immerhin zum neune Reichskanzler ausersehen war, und dem Tatmenschen Oberst von Stauffenberg Spannungen aufbauten.
Allerdings musste Goerdeler drei Tage vor dem Anschlag des 20. Juli wegen einer Verhaftungsorder der Nazis untertauchen. Wochenlang irrte er durch Deutschland, ehe er in Ostpreußen erkannt und verhaftet wurde. Der sofortige Tod, den all seine Mitverschwörer erleiden mussten, blieb ihm allerdings noch über ein halbes Jahr erspart, weil er in der Haft bereitwillig die gesamte Breite der Verschwörung enthüllte. Gerhard Ritter, hier ein sehr wohlmeinender Biograph, erklärt dies dadurch, dass die Nazis ohnehin über die gesamten Verästelungen bereits informiert waren und dass Goerdelers Detailangaben wenig Neues brachten. Außerdem, so Ritter, habe Goerdeler bis zuletzt sein moralischer Optimismus geleitet, gerade so, als sei Hitler durch die Denkschriften, die er bis kurz vor seinem Tode verfasste, noch zu beeinflussen gewesen.
Niemand wird das vorliegende Buch ohne innere Anteilnahme lesen können. Noch viel mehr als bei Stauffenberg tritt in der Gestalt Goerdelers dem Leser auf Schritt und Tritt eine unzeitgemäße Gestalt entgegen, die bei allen Fähigkeiten und moralischer Integrität ihrem ganzen Habitus nach gegen die totalitären Herausforderungen ihrer Zeit erfolglos bleiben musste. Stilistisch und konzeptionell repräsentiert das vorliegende Buch mit seiner Mischung aus wissenschaftlicher Akribie, einfühlsamer Hermeneutik und geschliffener Sprache für mich die hohe Kunst der Geschichtsschreibung, für die Theodor Mommsen dereinst sogar den Literaturnobelpreis erhalten hatte.