Keine Entwicklung hat die moderne Welt derart revolutioniert, wie die Erfindung der Eisenbahn und ihre weltweite Verbreitung. Wer diesen Prozess auf einem sehr detaillierten Niveau nachvollziehen will, der ist mit dem vorliegenden Buch bestens bedient, denn der Autor liefert nicht mehr und nicht weniger als eine Art Entstehungsgeschichte der modernen Welt, dargestellt am Beispiel ihres innovativsten Massentransportmittels. Dabei wird zunächst einmal herausgestellt, dass die Eisenbahn als Transportmittel auf bestimmten technischen Voraussetzungen beruhte, wie sie erst im Laufe eines dreiviertel Jahrhunderts im Zusammenhang mit der industriellen Revolution in England entwickelt wurden: der Newcombe Maschine, der Dampfmaschine nach James Watt in der Kolbenversion von 1781 und schließlich der Hochdruckdampfmaschine nach Evans. Wirtschaftlich eingesetzt wurde eine solche rollende Dampfmaschine erstmals in der englischen Kohleproduktion, als der Kohletransport durch Pferdefuhrwerke aufgrund der stark gestiegenen Futterpreise unwirtschaftlich zu werden drohte. Es war außerdem die Zeit, als die Schnelligkeit der herkömmlichen Transportmittel nicht mehr steigerbar war.( Steigerung der Reisegeschwindigkeit der Strecke von London nach Edinburgh von 10 Tagen im Jahre 1750 auf 2 Tage im Jahr 1836), was schon 1821 eine Diskussion über den Aufbau eines nationalen Eisenbahnnetzes hervorrief.
Ein solches nationales und vollkommen neuartiges Verkehrsnetz musste aber das Verhältnis von Natur und Transporte völlig umkehren. War der Kutschentransport nur als Anpassung an bestimmte Strassenverhaeltnisse denkbar und wurde die Reise deswegen immer als Mühsal erfahren, ändern sich die Verhältnisse bei der Eisenbahn vollständig. Das neue Transportmittel passt sich nicht mehr der Natur an, sondern die Natur wird an das neue Transportmedium angepasst. Die ideale Strasse ( glatt, eben, gerade, hart ) wird als Schienenschneise durch die Natur geschlagen, damit die Eisenbahn optimal auf ihr rollen kann ( Interessant ist der Unterschied zu den USA, wo der Boden billig und die Arbeit teuer war, was dazu führte, dass Hindernisse nicht durchstoßen sondern umbaut wurden – was u.a. auch eine flexiblere Fahrgestellgestaltung erforderte) Eine weitere Folge des Aufbaus eines überregionalen Schienennetzes ist die Entstehung einer einheitlichen nationalen und schließlich internationalen Zeit ( „Niedergang der lokalen Zeit“ ), eine Entwicklung, die durch die Verbreitung des Telegraphen noch forciert wird. Wie aber erlebt der Reisende selbst die Eisenbahn, deren Geschwindigkeiten von 25 bis 35 km/h alle bisher da gewesenen Rekorde brechen ? Nach Schivelbusch gleichen sie „Projektilen“, sie werden zu industriellen „Paketen“, die Räume scheinen zu schrumpfen, das Fremde rückt näher ( Heine: „die Nordsee vor meiner Türe“), und es entwickelt sich eine neue Sehgewohnheit, die Schivelbusch als den „panoramischen Blick“ bezeichnet. Beim panoramischen Blick verschwindet der Vordergrund, und es entsteht das Problem, mangels Sichtbarem vor dem Fenster sich die Zeit innerhalb der Reiseetappen zu vertreiben. Da die Reiseunterhaltung in Zugabteilen im Unterschied zu den Kutschenabteilen verschwindet, entsteht die Reiselektüre ( u.a. auch die ersten Bahnhofsbuchhandlungen, bei denen man Lektüre von Station zu Station ausleihen kann.) Im Unterschied zu den USA, wo die Großraumwaggons von Anfang an dominierten ( Vorbild des Dampfschiffes ) herrscht bei der Waggongestaltung in Europa das Postkutschenmodell und damit die Abteilkonzeption vor. Diese Vereinzelung in den rasend dahinschiessenden Zügen wird als zivilisiert und entlastend erlebt, schafft jedoch auch Ängste ( 1861 erster Eisenbahnmord), so dass aus Sicherheits- und Kontrollgründen die Seitengänge an den Abteilrändern aus den Trittbrettern am Rande der Waggons entwickelt werden. Aus den Irritationen durch die neuartige Erfahrung der Vibration entsteht die Eisenbahnabteilpolsterung, die schließlich auch in die Wohnzimmer Einlass findet.
Zugleich besteht untergründig immer eine starke Angst vor Eisenbahnunfällen, bei den obwaltenden Geschwindigkeiten sich leicht zu Katastrophen auswachsen. . Es kommt auch zu Unfällen ( Paris 1846) und zu traumatischen Schocks, deren Erforschung die besondere Dimension des Seelischen forciert, die allerdings als Schockforschung entgueltig erst mit den Granatschock–Untersuchungen nach dem ersten Weltkrieg zum festen Bestandteil der psychologischen Wissenschaft werden ( Bild eines Magneten, der durch einen kraeftigen Hammerschlag seinen Magnetismus verliert als Metapher für die Wirkung eines zerrüttenden Schocks). Zugleich entsteht aus der Erfahrung der Materialermüdung die Materialforschung als Wissenschaft. Die wissenschaftlich exakte Untersuchung der Belastbarkeit dynamisch miteinander agierender Materialien beeinflusst nach Ansicht des Autors sogar die Entstehung des Taylorismus in den USA,.
Die Revolution des Eisenbahnverkehrs verändert nicht zuletzt auch die Städte, weil die Strassen nunmehr gerade auf die Bahnhöfe zugebaut werden (exemplarisch: der Umbau von Paris durch Haussmann 1863), die Bahnhöfe selbst tragen dabei ein Doppelgesicht, werden halb als Palast, halb als Fabrik konzipiert. Erst die Expansion der Städte fleht zu dem Eindruck, dass die Bahnhöfe, ursprünglich überwiegend Kopfbahnhöfe an den Peripherien heute überwiegend im Zentrum der Städte liegen.
Der entstehende Straßenbau wird durch die Entwicklung der Eisenbahn zunächst eher gehemmt ( sieht Russland, wo es bis heute keine durchgehende Strasse zwischen Moskau und Wladiwostok gibt), ebenso in den USA, wo der Eisenbahnbau nahtlos an den Bau von Wasserstrassen anschließt. Erst mit der Entstehung des Massenverkehrs durch das Automobil um 1900 werden die Strassen massenhaft gebaut – aber auch sie nach dem Vorbild der Eisenbahn als ideale Strassen, eben als Auto-„bahnen“.