Thorwald: Es begann an der Weichsel. Das Ende an der Elbe

Thorwald Weichsel ElbeZum Jahreswechsel 1944/5, weniger als ein halbes Jahr vor der bedingungslosen Kapitulation, standen noch 7,5 Millionen deutscher Soldaten unter Waffen. Auch wenn die Situation des Dritten Reiches seit der Invasion der Alliierten in der Normandie und  dem Vormarsch der Roten Armee an der Ostfront immer aussichtsloser wurde, hätte damals image002niemand mit einem so schnellen deutschen Zusammenbruch innerhalb der nächsten Monate gerechnet. Vor allem nicht die über 14 Millionen Deutschen, die sich in Schlesien, Pommern und Ostpreußen scheinbar weit ab vom Schuss und sicher vor jedem Angriff wähnten. So sicher wähnte man sich im deutschen Osten, dass Hitler die Hauptmacht seiner Kräfte im Westen positionierte und in der bizarren Ardennenoffensive verzettelte. Vorbereitet durch ein Artilleriefeuer, wie es der Krieg bisher noch nicht gesehen hatte, stießen dann plötzlich haushoch überlegene russischer Verbände ab dem 12.1.1945 in einem Siegeslauf ohnegleichen in sechs Wochen bis an die Oder, bis vor die Tore Breslaus, Stettins und Danzigs vor.
Mit diesem folgenreichen Zusammenbruch der deutschen Front, der den Krieg im Osten praktisch entscheid, beginnt das vorliegende Buch. Gestützt auf Tausende von Dokumenten und Interviews entfaltet der Autor ein Bild des Schreckens, von dem die heutigen Deutschen kaum noch etwas wissen wollen. In immer neuen Varianten brach das Verhängnis plötzlich über unschuldige Frauen und Kinder herein. Zerbombt, erschossen, bestialisch ermordet, verbrannt, zu Tode vergewaltigt – schier unendlich waren die Varianten des Grauens, die der Autor in dem vorliegenden Buch vor einem Leser ausbreitet, der all das bald kaum noch lesen kann.
Ebenso minutiös wie die Gräuel der Roten Armee bei ihrem Einmarsch kommt auch das Versagen der nationalsozialistischen Führung zur Sprache. Es sind erschütternde Geschichten von Inkompetenz, die Hunderttausenden zusätzlich das Leben kosteten, weil die vorzeigen Evakuierung verhindert wurde, und von einer perfiden Gewissenlosigkeit, mit der obersten Chargen die Bevölkerung opferten, sich selbst aber rechtzeitig in Sicherheit brachten. Noch vor kurzem hat Walter Kempowski in seinem letzten Buch „Alles umsonst“ diesem Drama eine angemessene literarische Form gegeben.
Der dritte Schwerpunkt des Buches beschäftigt sich mit den militärischen Operationen im Einzelnen, und auch wenn der Leser hier nicht immer den Überblick behalten wird, sind die Ereignisse von einer kaum überbietbaren Dramatik. Noch während die russischen Truppen die Kohlereviere Oberschlesiens eroberten, förderten unter Tage noch die Kumpel die Kohle für Deutschland. Wandernde Kessel mit verbittert kämpfenden Truppen schlagen sich mitten durch das Millionenheer der Russen bis zur deutschen Grenze durch, während die Marine und die Armee in einer Hilfsaktion ohnegleichen Hunderttausende von eingeschlossenen Flüchtlingen über die See retteten.
Kaum zu glauben, dass die wenigen, die damals als Soldaten desertierten und die Flüchtlinge ihrem Schicksal überließen, heute von manchen als Helden gefeiert werden, und noch weniger ist zu glauben, das ein deutscher Bundeskanzler am 9.Mai 2005 zur Siegesfeier der Roten Armee über Deutschland in Moskau weilte.
Ich habe dieses Buch in atemloser Spannung und mit tieferer Erschütterung gelesen, gerade deswegen, weil heute dergleichen Tatsachen und Erinnerungen von einem linkszerknirschten Zeitgeist längst aus dem Geschichtsbild verdrängt wurden. An den Verbrechen, die im deutschen Namen im Osten Europas begangen wurden, gibt es nichts, aber auch gar nichts zu beschönigen, aber niemand kann mir erzählen, dass es gerecht oder richtig gewesen sei, dass dafür Hunderttausende unschuldiger Frauen und Kinder im Winter 1944/5 sterben mussten. Dass die Form der Darstellung in dem vorliegenden Buch –  etwa die fiktiven inneren Dialoge der Generäle oder zahlreiche auf der Grundlage der Quellen erfundene Gespräche – heute etwas antiquiert oder sogar problematisch anmuten, ändert nicht an der Eindringlichkeit des Geschehens, das mit diesen Mitteln geschildert wird. Für mich eines der aufwühlendsten Bücher über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges.

Kommentar verfassen