Hand aufs Herz: In der langen Liste russischer Zaren gab es nur wenig Lichtgestalten. Peter I (der so genannte Große) ließ seinen Sohn zu Tode foltern, Nikolaus I war der Zuchtmeister der Reaktion in Europa, und Paul I, der Vater Alexanders I, war – so das vorliegende Buch – „ein ausgefallenes Gemisch aus Grausamkeit und Perversion.“ (S. 36) Er wollte das Knacken der Knie hören, wenn sich seine Untertanen vor ihm niederwarfen und verkaufte sechs Jahre nach dem Beginn der französischen Revolution noch Hunderttausende russischer Leibeigene an seine Adelskumpane nach Sibirien. Leidlich sympathisch waren eigentlich nur Nikolaus II (1896-1917), der Reformzar Alexander II (1855-1881) und Alexander I (1801-1825) – den ersten erschossen die Bolschewiki mit seiner ganzen Familie, den zweiten sprengten die Terroristen in die Luft, und über den Dritten, „den Befreier Europas vom napoleonischen Joch“ hat Henry Vallotton das vorliegende Buch geschrieben.
Aber auch dieser Zar hatte natürlich seine Schattenseiten, wenngleich gelegentlich von Selbsterkenntnis erhellt. „Ich bin ganz und gar unfähig zu Wetteifer und Lerneifer“, schreibt der kleine Prinz, „und wenn ich nur zu trinken und zu essen haben und wie ein sechsjähriges Kind spielen und wie ein Papagei plappern kann, fehlt es mit an gar nichts.“ ( S. 23). Wer hätte zu diesem Zeitpunkt gedacht, dass aus diesem kleinen faulen Prinzen einmal der Bezwinger Napoleons würde? Sein Vater, Zar Paul I ganz bestimmt nicht, aber der war ein solcher Wüterich, dass er von seinen Offizieren im Jahre 1801 wie eine Sau im Schafzimmer abgestochen wurde, so dass der inzwischen herangewachsene Prinz Alexei im Alter von nur 28 Jahren den russischen Thron bestieg.
Wir schreiben das Jahr 1801, die Russen jubeln, weil sie wieder einen Psychopathen auf dem Zarenthron überlebt haben. Durch seinen Schweizer Lehrer De Harpe ist der freundliche, etwas behäbige Jungzar sogar mit liberalem Gedankengut durchtränkt, eine Prägung, die sich allerdings immer dann verflüchtigt, wenn sie zum Wohl der Untertanen in die Tat umgesetzt werden soll. Immerhin schafft er die Prügelstrafe für den Adel ab, berät sich mit seinen idealistischen Kumpanen in geheimen Kabinetten, überlässt aber das Tagesgeschäft seinen Beamten und seine Bauern noch weitgehend der Leibeigenschaft.
Sein Schicksal aber heißt Napoleon. Während der jugendliche Zar in Petersburg und Moskau vor sich hin dilettiert, unterwirft Napoleon immer größere Teile Europas. Von Österreich und England in den dritten Koalitionskrieg hinein gezogen, erleidet Russland im Dezember 1805 bei Austerlitz eine schreckliche Niederlage, kurz darauf vernichtet die französische Armee auch noch die angestaubten Truppen der Preußen, und Alexander I muss sich vom Kaiser der Franzosen 1807 bei dem berühmten Treffen von Tilsit die Bedingungen für eine Neuordnung Europas diktieren lassen. Auf dem Fürstentag von Erfurt 1808 muss er zudem mit ansehen, wie das Königsgeschmeiß halb Europas vor dem großen Korsen kriecht und ihm, dem Zaren aller Reussen, nur noch nebenbei Beachtung schenkt. Vielleicht war es tatsächlich – wie Vallotton vermutet – die Eitelkeit, die Alexander in eine immer entschiedenere Opposition zu Napoleon treibt. Vielleicht aber waren es auch objektive Bedingungen, wie die Einbußen Russlands durch die Kontinentalsperre, die drohende Wiedererrichtung Polens unter französischem Protektorat oder der notorische Hochverrat des schrecklichen Talleyrand, die Alexander dazu veranlassten, seit 1809 eine regelrechte Hinhaltetaktik zu verfolgen und insgeheim mit aller Kraft für die letztlich unausweichliche Auseinandersetzung mit Napoleon zu rüsten. Diesen Gegensatz erkannt und mit einer natürlichen Sturheit ausgefochten zu haben, dürfte – so Valllotton – im wesentlichen Alexanders geschichtliche Leistung darstellen. Trotzdem gab selbst der gut informierte Metternich keinen Pfifferling mehr für Alexander I , als Napoleon im Mai 1812 mit seiner Großen Armee nach Moskau zieht, eine Einschätzung, die die Kampfkraft der russischen Soldaten weit unterschätzte. In diesem Krieg (S. 134 – 200 in dem vorliegenden Buch) überlässt der Zar dem alten Kutusow die militärische Führung, dem es mit Hilfe zahlreicher Ratgeber ( unter ihnen Clausewitz ) und furchtbarer Opfer ( u.a. der Brand Moskaus ) gelingt, Napoleon die entscheidende Katastrophe seiner Laufbahn zuzufügen. In der Völkerschlacht bei Leipzig ( sehr gut beschrieben auf Seite 204ff.) unterliegt Napoleon der puren Übermacht und muss im nächsten Jahr, als Alexander und seine Verbündeten schon vor Paris stehen, abdanken.
Mit dem siegreichen Einzug des jungen Zaren in Paris (S. 210ff.) und dem Wiener Kongress tritt Alexander endgültig in das gleißende Licht der Weltgeschichte, ein scheinbarer Völkerbefreier, dem alle zujubeln und der sich doch immer mehr in einem kruden Gemisch aus Mystizismus und rein verbalem Liberalismus ( S. 243) verliert. Das neu geschaffene Königreich Polen unter russischem Supremat erhält zwar eine liberale Verfassung, aber lauter triste russische Autokraten als Amtswalter. Dem Herrn Jesus Christus ließ der Zar bei Tisch gerne ein Gedeck auflegen (S. 233), seine liberalen Mitarbeiter aber wurden eine um das andere mal gefeuert. Am Ende wachte Zar Alexander I als Oberhaupt der Heiligen Allianz und Metternichs Kettenhund über die Völker Europas, während er daheim den Studenten verbot, das Neue Testament in russischer Sprache zu lesen.
Als sich im Gefolge des Griechischen Aufstandes schon die ersten Risse in der nachnapoleonischen Ordnung zeigen, verstirbt der inzwischen reichlich bigotte Zar vollkommen überraschend im Alter von 42 Jahren Ende 1825 ( nur vier Jahre nach dem einsamen Tod Napoleon auf St. Helena ) an einer Lungenentzündung – natürlich auch nicht, ohne dass, wie dies in der russischen Geschichte notorisch zu sein scheint, zwischen 1836 bis 1864 ein geheimnisvoller Fedor Kussmitsch als Wiedergänger des Zaren durch Russland tingelte.
Henry Vallotton hat mit der Biographie Alexanders I zweifellos ein packendes Stück europäischer Geschichte anschaulich entfaltet. Über die erzählerische Brillanz, die das Buch von der ersten bis zur letzten Seite auszeichnet sind zwei weitere Vorzüge besonders hervorzuheben: einerseits das Bemühen, den Leser durch zahlreiche Originalzitate aus Briefen, Notizen oder Urkunden an den Primärquellen teilhaben zu lassen, andererseits die stilistische Prägnanz, mit der Vallotton die Figuren psychologisch charakterisiert. So ergänzt am Ende der kleine faule Prinz Alexander I, der „vom Kind gleich zum Kaiser wurde und niemals ein Mann gewesen ist“, ( so Alexanders Schwester Konstantine ) neben dem genialen Korsen, dem depperten Friedrich Wilhelm III, dem müffelnden Kaiser von Österreich, dem durchtriebenen Metternich, dem intriganten Talleyrand und vielen anderen Erscheinungen die kunterbunte Komparserie einer gesamteuropäischen Wendezeit, deren Auswirkungen bis auf den heutigen Tag noch zu spüren sind.