Wills; 1688 – Was geschah in einem Jahr rund um den Globus?

1688Zu wissen, was im gleichen Augenblick in der ganzen Welt geschieht, gehört zu den schönsten Kindheitsträumen. Obwohl seit dem Anbruch der weltweiten Datenvernetzung dieser Traum zur Norm geworden ist, war die weltweite Gleichzeitigkeit für die Zeitgenossen früherer Jahrhunderte nur eine phantastische Fiktion.. John E. Willis versucht in dem vorliegenden Buch wenigstens dem Leser unserer Tage eine solche Gleichzeitigkeit von der Belle Etage des Historikers für das Jahr 1688 zu präsentieren. An der Hand des Autors blickt der Leser tatsächlich wie durch einen überdimensionalen Zoom in die Metropolen und Peripherien einer vergangenen Welt, und was es da in einer fiktiven Gleichzeitigkeit zu sehen gibt, ist wahrlich beachtlich. Auf den Sklavenmärkten Afrikas beginnt die systematische Erschließung des Kongobeckens für den Menschenhandel, die spanischen Silberflotten bringen noch immer die Edelmetalle aus Potosi nach Europa, in Spanisch-Mexiko erleidet die indianisch-mexikanischen Dichterin Sor Juana ihr tragisches Schicksal, der Grieche Phaulkon erlebt seinen Aufstieg und Fall am sagenhaften Hof von Siam, eine französische Gesandtschaft erreicht den Hof des Qing-Kaiser Kuangxi, der gerade erst den Jesuiten an seinem Hof die weitere Missionierung gestattet hatte. Im indischen Hyderahbad rüstet der letzte Großmogul Aurangazeb zum Schlag gegen die Ungläubigen, und an den Gestaden des sagenhaften Südkontinentes beobacht und beschreibt der englische Abenteurer William Dampier als erster die Aborigines. In England verfasst John Locke seine liberalen Schriften, während gleichzeitig die Glorious Revolution das europäische Verfassungsdenken auf eine neue Stufe erhebt. Peter der Große ist in Russland dabei, sich seines schwachsinnigen Halbbruders Iwan IV zu entledigen, am Kap der Guten Hoffnung festigen die Holländer ihre Kolonie, und auf dem Dach der Welt ist kurz nach dem Tod des 5. Dalai Lamas der Potala von Lhasa vollendet. Auch was in Japan, in Java, Brasilien oder in den Neuenglandstaaten 1688 geschieht, erhält in dem Buch seinen gebührenden Platz.

Aber was ist die Moral von der Geschicht? Was ist der gemeinsame Nenner so imponierenden Vielzahl von Namen, Herrschern und Ereignissen? Zeigen sich in den vielfältigen und so kurzweilig erzählten Miniaturen, den immer wieder neu eingestellten Nahaufnahmen aus allen Kontinenten am Ende wenigstens die Grundmuster einer neuen Zeit, die China, Indien, Europa und Amerika gleichermaßen eigen sind? Nein, wird man sagen müssen, diese weltweit einheitlichen Muster ergeben sich weder aus den Ereignissen noch aus dem Buch. Die parallel erzählten Geschichten des vorliegenden Buches beziehen vielmehr ihre Spannung und ihre Attraktivität aus dem Wissen, dass all die verschiedenen Ströme und Turbulenzen, von denen im den Buch die Rede ist, irgendwann einmal (und zwar lange nach 1688 ) zu einer einzigen Weltgeschichte zusammenwachsen werden. Mit dieser Einschränkung aber handelt es sich um eine der reizvollsten wirklichen „Weltgeschichten“, die es derzeit zu lesen gibt.

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