Manche Wahrheit kann man nur verhüllt aussprechen. Wenn die finalen Thesen des Buches in leicht verständlicher Diktion gleich am Anfang des Werkes ständen, würden die öffentlich-rechtlichen Meinungsbilder über den Autor herfallen und kein Blatt auf dem anderen lassen. Eingepackt in ein philosophisches Werk von 330 Seiten jedoch bleibt die Wahrheit unbehelligt – vielleicht sogar unbeachtet, weil sich kaum jemand die Mühe macht, ein solches Buch zu lesen.
Was schade ist. Denn Sloterdijk, der mit Abstand inspirierendste Sozialphilosoph unserer Zeit, eröffnet dem Leser einen neuen Verständnishorizont unserer Lebenswelt. Was aber kann diesen neuen Verständnishorizont eröffnen? Eine neue Theorie der Menschenrechte, der Zivilgesellschaft, der Klimarettung oder eine neue Genderutopie? Das sind doch alles Narrenkappen oder alte Hüte – es geht um etwas viel Elementares: es geht um den Zorn.
Der Zorn steht im ersten Satz der abendländischen Literatur ( der Zorn des Achilleus), und der Zorn wird noch an ihrem Grabe stehen. Denn der Zorn ist ein Mischung aus Wut und Kraft, eine Energie, die sich in Zorndepots“ ansammelt um durch die richtigen Fokussierungen zur kraftvollen Veränderung der Welt beizutragen. Wenn die Revolutionen nach Marx die Lokomotiven der Weltgeschichte sind, dann ist der Zorn ihre Antriebsenergie.
Das ist eine erregende, neuen Perspektive, und die Art, wie Sloterdijk diese Sichtweise entlang der abendländischen Literatur- und Geistesgeschichte immer aufs neue durchdekliniert, ist beeindruckend und brillant. Diese Passagen über autosuggestive Zornmassen“ oder die ursprüngliche Akkumulation des Zorns“, über alttestamentarische und christliche Zornexzesse muss man gelesen haben: ein Schatzkästchen für jeden Philosophieinteressierten, eine ganze Galerie exzellenter Miniaturen, die sich zu einem neuen Bild der gesellschaftlichen Evolution zusammen setzen.
Ohne zu viel verraten zu wollen, sei nur auf den Ausklang und die zeitdiagnostische Pointe des Werkes hingewiesen. Nach Sloterdijk leben wir im Westen in einer thymotisch vollkommen verarmten Epoche – nach den Zornexzessen des Nationalsozialismus und des Kommunismus ist die Legitimität des Zorns obsolet geworden. Der Zorn kann sich nicht mehr äußern, er diffundiert und verkrüppelt – wo Zorn war, triumphiert nun unter dem Einfluss der Gutmenschen die Schuld, die Neurose, die Selbsterniedrigung
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn inmitten und vor den Toren der entzornten Gesellschaft erhebt ein neuer Zorn sein Haupt, als thymotische Energie schrecklicher und furchterregender als alles vorhergehende: der Islamismus. Vollkommen unangekränkelt von den Sprachvorgaben des politische korrekten Neusprech beschreibt der Autor auf den letzten Seiten des Buches die heraufziehende Gefahr des Islamismus in einem derartigen Klartext, das einem das Grausen ankommen kann. „Der unvorbereitete Leser des Koran kommt nicht umhin, zu staunen, wie ein heiliges Buch, ohne Furcht davor, sich selbst zu dementieren, nahezu auf jeder Seite den Feinden des Propheten und des Glaubens die Pein des ewigen Feuers anzudrohen vermag.“(S. 345) Und gleich anschließend heißt es. „Kein Mensch würde sich um die dunklen Koranstellen kümmern, wären da nicht die Millionen zählenden gewalthungrigen Gottsucherbanden, die sich die Worte zu ihren kommenden Taten zurechtlegen.“(S. 346). Das ist das Problem, und einen Rat weiß auch der Autor nicht. „Selbst Kenner der Lage besitzen heute nicht die geringste Vorstellung davon, wie der machtvoll anrollende muslimische youth bulge, die umfangreichste Welle an genozidschwangeren Jungmännerüberschüssen in der Geschichte der Menschheit mit friedlichen Mitteln einzudämmen wäre“(S. 347). Dabei liegt die Therapie nach der Lektüre des Buches klar auf der Hand. Gegen diesen Zorn werden sich nur Gesellschaften behaupten können, die selbst wieder zornig werden. Aber diese Wahrheit auszusprechen, war dem Autor dann vielleicht doch noch ein wenig zu heiß. Es hätte auch nichts genutzt. Denn nun ist es so weit. Der Youth Bulge überrollt Deutschland, und junge Frauen stehen an den Bahnhöfen mit „Welcome Refugees Schildern“ Diesen Wahnsinn zu erklären bedarf es allerdings wieder eines neuen Buches. Oder wir greifen gleich zu Arnold Toynbee, der geschrieben hatte: die meisten Kulturen gehen am Selbstmord zugrunde.
Nachtrag zum Autor – Sloterdijk, ein Charakter, der hinter seiner brillanten Intellektualität zurückfällt. Ein wenig Feigheit west durch den Raum, wenn er sich aus Gründen der Existenzsicherung von Marc Jongen, Uwe Tellkamp und anderen Aufrechten distanziert. Ein hochbegabtes Hasenherz, der gerade den Thymos besingt, an dem es ihm mangelt. Aber wer ist vollkommen? Von seinen Formulierungen und Einsichten kann man trotzdem jede Menge lernen. So heißt es etwa am Ende eines langen Interviews in der NZZ: „Ich bin ein Überlebender einer Generation, die in ihren jüngeren Jahren den Horizont weit offen sah. Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, dass ich auf meine älteren Tage Zeuge einer illiberalen Regression werden könnte, wie wir sie heute erleben, von rechts wie von links. Gott sei Dank habe ich noch Freunde aus der anderen Zeit, ich kenne auch Jüngere, die den Impuls weitertragen. Im Übrigen würde ich frei nach Talleyrand sagen: Wer nicht vor der Regression gelebt hat, weiß nichts von der Süße des Lebens.“