Manchmal schreibt das Leben die packendsten Geschichten, wenn es nicht immer auch die erfreulichsten sind. Karin Reemtsma, die steinreiche junge Nichte des bekannten sozialliberalen Mäzens Philipp Reemtsma, studierte Anthropologie in Deutschland und den USA und trat bereits früh als Menschenrechtsaktivistin für Indianer, Sinti und Roma hervor. Auf einer der zahlreichen Tagungen, Workshops und Vor-Ort-Besichtigungen lernte sie den Roma Asmed S. kennen, der vor der Einberufung zur serbischen Armee nach Deutschland geflohen war. Karin Reemtsma und Asmed S. verlieben sich, heiraten, bekommen zwei Kinder und leben in einer gutbürgerlichen Wohnung in Berlin, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
In Wahrheit nahm diese märchenhaft anmutende Geschichte eine ganz andere Wendung. Schon bald kam es zwischen den Eheleuten zur Entfremdung. 200.000 Euro, die die wohlhabende Karin Reemtsma ihren Gatten überlassen hatte, verschwanden spurlos, Asmet S. begann zu spielen und zu trinken, die Streitigkeiten nahmen zu, und eines Tages erstach Asmed S. seine Frau mit einem 32cm langen Küchenmesser. Bei der anschließenden Gerichtsverhandlung, man mag es gar nicht niederschrieben, wurde dem Täter eine Art interkultureller Verwirrtheitsbonus zugutegehalten, so dass er mit zwölf Jahren Gefängnis davon kam, die er nur teilweise absitzen musste. Vorzeitig entlassen, lebt er heute als untergetauchter Nobody irgendwo auf dem Balkan. Eine deprimierende deutsche Geschichte, politisch fast zu unkorrekt, um als Roman erzählt zu werden.
Der deutsch-rumänische Schriftsteller Richard Wagner, der ehemalige Ehmann von Herta Müller, mit der er 1987 gemeinsam nach Deutschland emigrierte, hat es trotzdem versucht und einen eng an die tatsächlichen Verhältnisse angelehnten Schlüsselroman über das „reiche Mädchen“ geschrieben, einen Schlüsselroman, der sich auf das heikle Feld tabuisierte gesellschaftlicher Lebenslügen über den Mulikulturalismus vorwagt. Aber auch abseits dieser weltanschaulichen Verminung muss ein Schlüsselroman mit dieser Thematik literarisch eine regelrechte Gratwanderung leisten – einerseits dürfen die Protagonisten nicht nur als soziologische Abziehbilder auftreten, sondern sollten als psychologisch glaubhafte Gestalten daherkommen, als Liebende, die wie alle Liebende ihre Ehe zunächst ernst nehmen, ehe sie sich als zu schwach erweisen, sie auch zu leben. Sodann darf aber auch die interkulturelle Thematik, die maßgeblich zur Katastrophe beigetragen hat, nicht einfach unter den Tisch fallen. Dass dergleichen in unserer linksdurchgrünten Gegenwartsliteratur überhaupt versucht wird, ist schon ein Verdienst, das man nicht hoch genug einschätzen kann. Wie aber ist der Roman gelungen?
Wagner erzählt seine Geschichte auf der Grundlage einer doppelbödigen Konstruktion. In einer Art Rahmenhandlung parlieren ein Literat und eine Redakteurin über die Geschichte von Karin und Asmed, die im Roman als Sybille und Dejan auftreten. Ergänzt werden diese Mutmaßungen und Recherchen durch die konkrete Geschichte von Sybille und Dejan, die sich vornehmlich in Form innerer Monologe der Protagonisten entfaltet. Auf diese Weise entsteht das Bild einer jungen Frau, die die Verstrickungen ihrer Familie in die Machenschaft des Nationalsozialismus in einer Art hypermoralischer Transzendierung durch intensiven Menschenrechtsaktivismus kompensiert. Sie trifft auf einen wenig lebenstüchtigen Roma, dessen Lebensweg bisher durch seine energische Mutter bestimmt wurde, ehe er in Gestalt von Sybille Sundermann der zweiten überlegenen Frau seines Lebens begegnet. Moralisches Kompensationsgehabe und soziales Betreuungsbedürfnis treffen aufeinander, was beiden nicht verborgen bleibt und was die emotionalen Bindungen bald überdeckt. „F… du mich oder f… du Auschwitz?“, fragt der Roma-Ehemann seine Menschenrechtsgattin, was nichts anderes bedeutet, als dass Dejan ein Gefühl dafür entwickelt, dass er im Rahmen des bundesrepublikanischen Menschenrechtsbetriebes und der politischen Aktivitäten seiner Frau eine durchaus instrumentelle Funktion einnimmt. Verstärkt durch Machimsogehabe und eine larvierende schizoide Störung eskaliert die Situation in den Bereich der körperlichen Auseinandersetzungen, bis Dejan seine Frau ermordet.
Der Roman erschien im Jahre 2007 und blieb trotz der einen oder anderen Belobigung (u.a. von Elke Heidenreich) in der öffentlichen Diskussion unbeachtet, was meiner Ansicht nach auf zwei Gründe zurückzuführen ist. Einerseits an der Story selbst, deren tragischer Verlauf so ziemlich alles denunziert, wofür sich die einheimische Gutmenschenindustrie stark macht. Andererseits aber auch deswegen, weil das Buch literarisch nur teilweise gelungen ist. Die Sprache ist, ist gelinge gesagt, gewöhnungsbedürftig. Die Sätze sind selten länger als sechs oder sieben Worte, wogegen ich gar nichts hätte, wenn dadurch ein Lesesog entstehen würde, was aber in dem vorliegenden Buch nicht der Fall ist.
Wenig gelungen erscheint mir auch die Psychologie der Titelheldin: ich bin weit davon entfernt, jedem Menschenrechtsaktivisten eine überkomplexe Persönlichkeitsstruktur zu unterstellen – nur dass Sybille Sundermann so holzschnittartig funktioniert haben soll, will mir nicht in den Kopf. Die Gestalt Dejans ist zwar genauer ausgeleuchtet, aber immer, wenn die Sachverhalte gar zu sehr gegen sein Verhalten sprechen, hat man das Gefühl, als bewirke eine imaginäre Zensur im Kopf des Autors einen gewissen Weichspülereffekt. Trotzdem ist der Autor in dem vorliegenden Buch bis an die Grenze dessen gegangen, was literarisch derzeit möglich ist, ohne dass er Gefahr lief, der massenmedialen Ächtung zu verfallen „Feiges Volk, denkt er (gemeint: Dejan L.W.). Ich könnte einen von euch hier abmurksen, jeden von euch könnte ich abmurksen, mitten im Bus, und ihr würdet so tun, als ob nichts geschehen wäre. Erst wenn die Polizei da sei würde, würdet ihr allesamt Zeugen sein. Armes Deutschland, sagt sein Zorn.“ Wahrscheinlich haben die Tugendwächter in den „Qualitätsmedien“ diese Sätze nicht gelesen, sonst hätten sie längst den allgemeinen Empörungsalarmknopf gedrückt.