Bellow: Der Dezember des Dekans

Bellow DekanHegel hat die These vertreten, es sei die Aufgabe der Philosophie, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen. Das kann ganz schön langweilig sein. Literatur, wenn sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden will, obliegt dagegen die Aufgabe, ihre Zeit in Geschichten zu erfassen. Das ist schon unterhaltsamer, aber so schwierig, dass es fast nie gelingt. Dass das vorliegende Buch, dem dies tatsächlich gelungen ist, ist bei amazon zu einem Ramschpreis von 0,78 Euro zu erwerben ist, zeigt aber leider auch, dass eine solche Leistung die Zeitgenossen nur einen müden Furz interessiert.

Um zum Thema zu kommen: Saul Bellow, nach Marcel Reich-Ranickis Meinung „der größte Epiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, wird heute kaum noch gelesen – dabei haben die Filme Woody Allens und die Romane von Philip Roth ihren Ursprung in seinem Werk. Mit vier großen Meisterwerken „Die Abenteuer des Augie March“, „Herzog“, „Humboldts Vermächtnis und „Der Dezember des Dekans“ hat Bellow den Lebenskreis des modernen Menschen ausgemessen und fixiert, wie keiner vor und keiner nach ihm – und doch ist er zwar nicht der Welt, aber dem Massenpublikum abhandeln gekommen.

j  (23)Das vorliegende Werk, Bellows erste Veröffentlichung nach der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1976, beschreibt die Reise des amerikanischen Professors Albert Corde und seiner Frau Minna nach Bukarest, wo Minnas Mutter Valeria im Sterben liegt. Parallel dazu vollzieht sich in der Abwesenheit Cordes in Chicago ein aufsehenerregender Prozess gegen zwei Farbige, die im Zuge eines Raubversuches einen weißen Studenten ermordet haben. Corde hatte als Dekan der Universität durch eigene Ermittlungen überhaupt erst dafür gesorgt, dass es zum Prozess kam, was ihn als vermeintlichen Rassisten“ in das Fadenkreuz linker Studentengruppen bringt.

Was der Leser im Verlaufe des Romans über den Alltag des rumänischen Kommunismus zu lesen bekommt, wäre heute, da die Linke schon wieder auf dem Vormarsch ist, lehrreicher denn je. Es ist eine totalitäre Welt, in der nicht nur die Wasserrohre, sondern auch die menschlichen Beziehungen vereisen. Inkompetenz, Gleichgültigkeit, Mangel, Verelendung, Spitzeltum und Lüge regieren das Reich des Diktators, und die kleinlichen Schikanen, mit denen die Offiziellen das amerikanische Besucherpaar und seine Umgebung drangsalieren, vergällen der Tochter die letzten Tage mit ihrer Mutter.

Wer nun erwartet, dass die amerikanische Gesellschaft demgegenüber in hellen IMG_3178Farben erstrahlen würde, wird enttäuscht. In Chicago, der Heimatstadt Cordes ( und Bellows) brodelt die Apokalypse unter den Füßen der Wohlhabenden, die davon in ihren Vorstädten und Hochhäusern nichts hören wollen. Drogen, Verbrechen, sinnlose Gewalt, abgrundtiefe Verdorbenheit regieren in den Unterschichten, und die wenigen Menschen wie etwa der farbige Gefängnisdirekter Ridpath, die dagegen vorgehen wollen, werden von den Medien zerfetzt. Corde selbst, der diese Zustände in einer viel gelesenen Artikelserie anprangert, gerät in die Rolle eine Nestbeschmutzers und Ahnungslosen und muss am Ende seine Stellung aufgeben. Sarrazin lässt grüßen.

Auf diesem wahrlich weiten Feld, definiert durch die völlige Abwesenheit von Freiheit im Osten und eine grenzenlose Libertinage im Westen, entfaltet der Autor ein ganzes Panoptikum von Figuren, ebenso repräsentativ wie individuell – Gestalten wie der vom Selbsthass zerfressene linke Student Mason Zahner, der alles daransetzt, das farbige Mörderpaar frei zu bekommen, der schleimige Rektor Alec Witt, eine Vorwegnahme des Gutmenschenfunktionärs unserer Tage, der seine Nase immer nur nach dem politisch korrekten Wind dreht, der Karrierejournalist Dewey Sprangler, der als medial privilegierter Stichwortgeber dafür sorgt, dass die öffentliche Wahrnehmung sich auf Eitelkeiten und Quisquilien, nicht aber auf die Wirklichkeit bezieht, sind heute womöglich noch aktueller als in den Siebziger Jahren. Die literarische Raffinesse, mit der Zahner, Witt und Sprangler beschrieben werden, die stupende imaginative Kraft des Autors, die dem Leser Dutzende anderer Figuren plastisch vor Augen führt, der großformatige Aufbau des Werkes, das mit einem Blick in die Gestirne endet, sucht seinesgleichen. Ein Meisterwerk.

Aber auch ein Meisterwerk, das traurig macht. Wie kann es sein, dass ein solches Werk so gänzlich vergessen wird? Fast könnte man meinen, es sei in seiner Vollkommenheit einerseits und seiner völligen Folgenlosigkeit andererseits ein Beweis für die soziopolische Irrelevanz von Literatur. Das wäre dann auch eine Zeitdiagnose, wenngleich eine von der unerfreulichsten Art.

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