Mit dem vorliegenden Buch geht es einem wie jemandem, der völlig unerwartet eine Speise isst, deren Geschmack er zwar kennt, aber schon fast vergessen hat. Man vernimmt plötzlich eine Stimme, die von einer Welt erzählt, deren Wirklichkeit in unserer Gegenwart fast schon vergangen ist. Ich las das „Tagebuch eines Landpfarrers“ weitab von der Welt im Urlaub und erkannte in ihm ein durch und durch unzeitgemäßes aber deswegen umso bedeutenderes Werk.
Schon der Titel deutet an, worum es geht – im Mittelpunkt der Handlung steht ein junger Landpfarrer, der zwischen den Weltkriegen in der französischen Provinz als Seelsorger ein Dorf betreut, das man sich ärmer und hinterwelterischer kaum vorstellen kann. „Es war rundum in dampfenden Nebel gehüllt und sah aus, als hätte es sich wie ein armes, erschöpftes Tier in das triefend nasse Gras geduckt.“ (S.8) So arm wie die Menschen, ist auch der Pfarrer, der in zerrissener Soutane über Land marschiert und dem Krämer sogar den Wein schuldig bleiben muss. Abgemagert und magenkrank wird er zum Gespött seiner Pfarrkinder, und auch der Kontakt zu den gewöhnlichen Gemeindemitgliedern ist alles andere als erbaulich. „Ich las in seinem (Blick) zunächst Überraschung, dann Aufderhutsein, dann Lüge, nicht irgendeine bestimmte Lüge, sondern den Willen zur Lüge.“ (S. 155) Meistens aber ist es noch schlimmer, notiert der Landpfarrer. „Seit langer Zeit habe ich den Eindruck, dass meine Gegenwart an sich schon genügt, um die Sünde aus dem Schlupfwinkel zu locken.(…) Es ist fast so, als hielte es der Feind für unter seiner Würde, sich vor einem so erbärmlichen Gegner wie mir verborgen zu halten.“ (S. 194) Überall erhebt das Übel sein Haupt, immer dreister, öffentlicher triumphiert das Schlechte in seinen vielfältigen Erscheinungsformen, selbst die Familien sind von Zwietracht vergiftet. „Hass innerhalb einer Familie ist der allergefährlichste, weil er sich nicht auf einmal befriedigen lässt sondern sich in einem ununterbrochenen Zusammenleben auswirken muss. Er ähnelt offenen Geschwüren, die langsam und ohne Fieber vergiften.“(S. 204)
Die Beobachtungen, Leiden, Zweifel und Hoffnungen des Landpfarrers, aber auch allgemeine Betrachtungen zu Reichtum und Armut, zu Beichte, Sünden, zu Kirche und Staat finden ihren Niederschlag in einem Tagebuch, in dem der fiktive Erzähler alles, was ihm geschieht und was ihm dabei durch den Kopf geht, so rückhaltlos wie möglich vermerkt. Für den Leser, der diesem Tagebuch über Hunderte von Seiten folgt, entsteht dabei das erschütternde Bild einer christlichen Welt im Untergang. Wollust, Sünde und Habgier, die Emmanationen des Bösen, befinden sich auf einem unwiderstehlichen Vormarsch, die Moderne als Satans Reich erhebt machtvoll ihr Haupt und der Landpfarrer sieht es mit Grausen.
Ohne zu übertreiben: auch den Leer unserer Tage ergreift mitunter das Grausen, wenn er die Vorzeichen der Zeit, in der er lebt, plötzlich ganz anders gedeutet sieht. Was wir als Epoche der Emanzipation, der Befreiung, der Mündigkeit und der Liberalität begreifen, erscheint bei Bernanos als eine Zeit, in der der Antichrist erstmalig allgemein und machtvoll im Gewand des Fortschritts aus dem Schatten tritt und sein Haupt erhebt. Das ist eine ungewohnte und beunruhigende Perspektive für die Leser moderner Gesellschaftsromane von Updike und Roth, Begley und DeLillo– auch deswegen, weil man in dem vorliegenden Buch auf kaum eine Betrachtung, keine Mahnung, keine Beobachtung treffen wird, die heute, drei Generationen später nicht in unendlich potenzierter Form traurige Wahrheit geworden ist.
Nur –kann das heute, da der christliche Glauben in Europa ein reines Minderheitenphänomen geworden ist und der Gottesbezug aus der Europäischen Verfassung gestrichen wurde, noch irgendjemanden interessieren? Sollen wir uns nicht lieber an der reichen Vielfalt von Beziehungsromanen laben, in denen pausenlos geliebelt und reflektiert wird und in denen die Protagonisten nichts weiter umtreibt, als die Frage mit wem sie als nächstes in die Kiste gehen? Schon diese Fragestellung zeigt die Verlorenheit und die Leere, an deren Rand der heute fast vollkommen vergessene Franzose George Bernanos ( 1888-1948) seinen Roman verfasste. Ein beunruhigendes Werk, fast ein Aufruf zur Besinnung und zur Selbstvergewisserung für jeden, der es liest. Also Literatur in ihrem ernstesten, besten Sinne.