„Bei seiner Größe, seiner ansehnlichen Gestalt, seinem Teint und wallendem Haar konnte er immer mit einer gewissen Aufmerksamkeit rechnen. Wenn er eine Frau auf eine gewissen Weise ansah, dann erwiderte sie seinen Blick, darauf konnte er sich verlassen,“ heißt es in dem vorliegenden Buch über Professor David Lurie, einen Dozenten für englische Literatur an der Universität von Kapstadt. „Und dann war eines Tages plötzlich alles vorbei. Ohne Vorwarnung wich seine Anziehungskraft von ihm. Über Nacht wurde er zum Gespenst. Wenn er eine Frau haben wollte, musste er sie zu verfolgen lernen.“ (13) Das ist bitter, und deswegen ist es kein Wunder, dass der Frühfünfziger, dem die Erfolge nun nicht mehr so leicht in den Schoß fallen, sich immer öfter in seine Studentinnen verguckt, je jünger und je schöner sie sind. Moralische Skrupel sind Professor Lurie fremd, „weil die Schönheit einer Frau nicht ihr allein gehört. Sie ist ein Teil der Aussteuer, die sie mit in die Welt bringt. Sie hat die Pflicht, sie zu teilen.“ Die Studentin Melanie Isaacs ist jung und schön und von der aufdringlichen Präsenz des Herrn Professors hinlänglich eingeschüchtert, dass sie sich ihm ohne Beigeisterung, aber pflichtschuldigst hingibt. Ein Freund der Studentin macht die Affäre schließlich publik, und da sich David Lurie in erstaunlicher Selbstgerechtigkeit weigert, sich zu entschuldigen oder anderweitig Einsicht zu zeigen, wird er entlassen. Unschlüssig, wie sein Leben weitergehen soll besucht er seine lesbische Tochter Lucy auf ihrer kleinen Farm in Grahamstown, auf der sie eine Hundepension betreibt und nebenher Gemüse zieht. Vater und Tochter haben noch gar nicht recht wieder aneinander gewöhnt, da werden sie Opfer eines schrecklichen Überfalls. Drei Schwarzafrikaner überfallen die kleine Farm, erschießen alle Hunde, vergewaltigen Lucy und versuchen den Vater, der seiner Tochter zu Hilfe kommen will, zu verbrennen. Mit Glück überleben beide, doch der Riss, den diese Schandtat in Lucys Leben aufgerissen hat, will nicht mehr verheilen. Die Polizei in Port Elisabeth nimmt den Vorfall auf, doch wirkliche Hilfe ist nicht zu erhoffen, zu groß ist die Gesetzlosigkeit auf dem Land, und es ist nur eine Frage der Zeit, so hießt es an einer Stelle des Buches, bis ein älterer weißafrikanischer Farmer, der in Lucys Nachbarschaft der Gewalt nicht weichen will, mit einer Kugel im Rücken gefunden werden wird. Dementsprechend resigniert ergibt sich die Tochter den neuen Realitäten Südafrikas: sie verzichtet auf eine Anklage gegen die drei Verbrecher und verschweigt die Vergewaltigung, um der öffentlichen Schande zu entgehen- allerdings vergeblich wie sich herausstellt, weil die Täter selbst ihre Tat bekannt machen. Professor Lurie, der für sein schandhaftes Verhalten mit Recht von der Universität geflogen ist, will das nicht verstehen, doch alles Drängen, die Täter zu verfolgen verpufft an der realistischen Phlegmatik der Tochter. Am Ende wird sie sogar die Zweit- oder Drittfrau eines erfolgreichen schwarzafrikanischen Farmers, der allein sie vor weiteren Übergriffen beschützen kann. Sie wählt ein Leben in der Kapitulation, auf dem untersten Niveau der Anpassung, während der Vater seine Krise durch die Komposition einer Oper zu bewältigen sucht. Beides sind zutiefst melancholische Reaktionen von Menschen, die in ihrer veränderten Heimat nicht mehr zurechtkommen. Coetzee hat auf höchstem literarischen Niveau das Drama einer Welt im Wandel verfasst, fokussiert auf die Nussschale zweier Einzelschicksale, die dem Untergang der weißafrikanischen Kultur am Kap auf je unterschiedliche Weise erleiden. Es ist ein sprachlich ungemein prägnantes, durchkonstruiertes Werk – vor allem aber ist es ein ehrliches Buch, das nicht dafür zurückschreckt, wenigstens die Grundkonturen der Massenkriminalität anzudeuten, in die die südafrikanische Gesellschaft seit dem vielumjubelten Wandel am Kap versinkt. Umso erstaunlicher, dass ein solch realistisches Buch sogar den Beifall der literarischen Schickeria fand und seinem Verfasser zum Booker Price und zum Nobelpreis verhalf.
ZWEITE LEKTÜRE 2016
Bei der zweiten Lektüre ergab sich für mich eine andere, zugespitztere Lesart. Viel stärker als bei ersten Mal erkannte ich die Vergewaltigung als extremste Manifestation der absoluten Macht. Es gibt keine größere Demütigung für ein Volk, als wenn seine Frauen vergewaltigt werden und die geschändeten Frauen die Brut der Eroberer austragen müssen. Unzählig sind die Beispiele aus der Geschichte – man denke nur an den Raub der Sabinerinnen, die Übergriffe der Konquistadoren und Kolonialherren bis hin zu den Massenvergewaltigungen der Roten Armee, von denen sich die deutsche Psyche auch 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch nicht erholt hat. Vergewaltigung existiert in der „weichen“, Form, wie sie Professor Lurie gegenüber seinen Studentinnen ausübte, und in brutalen, wie sie die drei jungen Schwarzen demonstrieren, die der weißen Frau zeigen, wer nun in dem Land das Sagen hat. Schärfer als in dem Umstand, dass die weiße vergewaltigte Frau sich in den Schutz eines farbigen Mannes begeben muss, um weiteren Vergewaltigungen zu entgehen, kann man den Machtwechsel am Kap nicht darstellen. Das ist in meinen Augen eine der Kernaussagen des Buches, das viel mehr als es in der öffentlichen Rezeption realisiert wurde, auch einen Abgesang an das alte weiße Südafrika darstellt.
Vor diesem Hintergrund erschloss sich mir auch ein neues Verständnis der Massenvergewaltigungen in Südafrika. Nach glaubhaften Berichten sind Vergewaltigungen in Südafrika ein millionenfaches Alltagsdelikt, ein Gewaltexzess vornehmlich schwarzer Männer an schwarzen Frauen, mit denen erstere möglicherweise kompensieren, dass sie auf der ökonomischen Bühne noch immer nicht die Macht von den weißen Männern übernommen haben. Eine zweite Folgerung aus einer ganz anderen Weltgegend ist noch beunruhigender. Die Massenübergriffe junger Moslems in der Kölner Silvesternacht 2015 an deutschen Frauen stellen einen rituellen Anspruch auf die Übernahme des Landes dar. Bedenkt man die würdelose Reaktion der deutschen Politik auf diese Exzesse kann einem vor dem, was noch folgen wird, nur Angst und Bange werden.