Konrad Lorenz hat im Jahre 1973 in „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ vom „Wärmetod des Gefühls“ gesprochen, von der Abflachung aller Emotionen und ihrem Verlöschen in der „Mittelmäßigkeit“ der durchschnittlichen Empfindung. Wilhelm Genazino ist der Autor, der diese Befindlichkeit seit dem ersten Erscheinen seiner „Abschaffel Trilogie“ literarisch in immer neuen Anläufen durchdekliniert hat, bis seine Lesergemeinde den Genazino´schen Protagonisten, ganz gleich in welcher sozialen Verkleidung er auftritt, schon von weitem erkennen können.
In dem vorliegenden Buch „Mittelmäßiges Heimweh“ trägt der Genazinosche Protagonist den Namen Dieter Rotmund und arbeitet als allein verdienender Finanzbuchhalter in einer nicht näher gekennzeichneten Stadt, wahrscheinlich Frankfurt, während seine Familie im Schwarzwald lebt. Die Ehefrau Edith trägt zwar nichts zum Lebensunterhalt bei, arbeitet aber als SPD Lokalpolitikerin in der Kommune mit, ist nörgelig bis in die Spitzen ihres „kleinen Busens“ und mit einer zeitgemäßen Sucht nach „Emanzipation“ geschlagen, die sie schließlich in ein Techtelmechtel mit einem Nachbarn treibt. Der arme Dieter Rotmund dagegen darf an den Wochenenden, an denen er seine Frau uns seine kleine Tochter Sabine besucht, noch nicht mal ran und fliegt eines Tages sogar in hohem Bogen aus seinem Haus, weil die Affäre der werten Gattin öffentlich wird.
Diese Zumutungen des Leben stützen Dieter Rotmund in die Verzweiflung, und vielleicht wäre er ganz darin versunken, gäbe es nicht die Liebe seiner kleinen Tochter Sabine, den gelegentlichen Beischlaf mit der merkwürdigen Frau Schweitzer und eine unerwartete Beförderung zum Finanzdirektor, die ihn wenigstens seiner finanziellen Sorgen enthebt. Aber innerlich bleibt Dieter Rotmund leer und einsam, ein Stadtstreicher nach Feierabend, auf der Flucht vor seinem Kummer gegen den er sich allerdings auf typisch Genazinohafte Art zur Wehr zu setzen weiß. „Es ist meine Wahrnehmung, die meine Melancholie über den vielleicht ausbleibenden Sinn vertreibt und mich ins Leben zurückholt“, heißt es auf S. 179, der Anblick eines Kindes, das mit dem „Kehlsack“ der Großmuter spielt, das plötzliche Nasenbluten eines jungen Mannes oder das Erscheinungsbild einer Zigeunercombo, deren Musik keiner hören will. Dieter Rotmund durchschreitet seine Wirklichkeit wie eine Galerie von Standbildern, die er in sich aufsaugt, damit ihre bloßes Sosein seine eigene Verzweiflung so lange zuschüttet, bis die Tränen versiegen und der Lebensmut für eine kurze Weile zurückkehrt. Genau genommen besteht diese „Genazinosche Katharsis“ darin, sich die Alltäglichkeit mit dem verfremdeten Blicke eines Unbeteiligten und gänzlich Unwissenden dergestalt vor Augen zu führen dass die dabei evozierte situative Komik den eigenen Kummer betäubt. Dies funktioniert durch eine im der deutschen Literatur einzigartige Sprachlichkeit, der es gelingt, jeder Banalität ihre Sonderbarkeit abzuquetschen und sie damit zu einem Objekt der Ablenkung und des Staunens zu erheben – etwa, wenn ein Teppich auf seine „Tränensaugkraft“ oder ein Gesicht auf seine „Lebensunkundigkeit“ hin untersucht wird, wenn der Protagonist sich als „Bescheidenheitsangeber“ oder Melancholiker entdeckt, der das Jetzt nur noch aus der Perspektive der Erinnerung erleben kann. Es gehört zum Zauber der Genazinoschen Prosa, dass diese Katharsis mühelos auch auf den Leser übergreift, der all die Empfindungen Rotmunds natürlich kennt und teilt und somit auch an dem den Trost, den Rotmund für sich selbst erarbeitet, partizipieren kann. Allererste Wahl für Leser, die den leisen Lebensekel und die Mühe kennen, mit einem Rest von Würde durch die Zumuntungen des Alltags zu kommen.