Grossmann: Leben und Schicksal

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Manche Bücher besitzen die geheimnisvolle Kraft, uns sofort zu fesseln. Es sind nur wenige, denen das gelingt, aber diejenigen, denen es gelingt, werden zu Begleitern unserer Tage. Ihre Figuren beschäftigen uns auch, wenn wir nicht gerade lesen und die Gespräche und Gedanken, die das Buch entfaltet, werden schließlich zum Teil unserer eigenen Identität.  Ein solches Buch ist für mich „Leben und Schicksal“ von Wassili Grossmann.

Es ist ein Buch, dem auf jeder Seite die Liebe zu Russland, seiner Weite, seinen Wäldern und seinen Menschen anzumerken ist. Es ist ein Buch, das leistet, was eine Kamera niemals kann: die Nah- und die Ferneinstellung gleichermaßen messerscharf zu fokussieren: wir sehen in die Seele einer Mutter, die ihrem Sohn ihren letzten Brief aus dem Ghetto schreibt, und wir überblicken das Panorama der Front, an der Hunderttausende zugrunde gehen. Wenn der Gegenstand des Romans nicht eine der großen Tragödien der Geschichte wäre, könnte man sich freuen an jeder einzelnen Figur, die  Grossmann in den Schützengräben Stalingrads, in den Büros der Akademien oder im Lageralltag erstehen lässt – es sind blutvoll gezeichnete Figuren mit Stärken und Schwächen, aber insgesamt aufrecht und gut, während  auf sie der graue Schatten des totalen Staates fällt, für den sie gegen einen möglicherweise noch grauenhafteren deutschen Feind kämpfen müssen. Die Gräuel der Entkulakisierung, die Säuberungen des Jahres1937, die Unmenschlichkeiten der Verschickungen in die Gulags werden in dem vorliegenden Buch klar benannt, so dass sich niemand wundern wird, dass Grossmanns Werk im Jahre 1960 selbst in der Tauwetterperiode unter Chruschtschow nicht erscheinen konnte.

Im Mittelpunkt des ersten Teiles (S.15-394) steht die weit verzweigte Familie der Schaposchnikows, die Mutter Alexandra, die schöne Tochter Gera zwischen ihren beiden Männern Krymnow und Nowikow, die ältere Tochter Ludmilla, die ihren gefallenen Sohn Tolja beweint, ihr Mann Viktor, der als Wissenschaftler in einem physikalischen Forschungsinstitut an der Entwicklung neuer Metalle arbeitet und zahlreiche Offiziere und Soldaten an der Stalingrader Front. Die einzelnen Familienmitglieder, auch die Schwäger und Enkel und deren Bekannte, der Schaposchnikows bilden dabei die Fäden eines umspannenden erzählerischen Netzes, mit dem ganz unterschiedliche Schauplätze verbunden werden: etwa die Front in Stalingrad und der Haus „Eins Strich sechs“, das mitten in Stalingrad den Deutschen den Vormarsch versperrt, das Kasaner Forschungsinstitut, das deutsche Lager, Schauplätze im Ural und in Samara und anderswo.  Es handelt sich um eine gewaltige Exposition, die zugleich eine Zustandsbeschreibung ist: die Welt am Scheideweg des Herbstes 1942.

 

Der zweite Teil  (S.395-743)spielt vornehmlich an fünf Schauplätzen: in den naturwissenschaftlichen Labors von Moskau, in denen Viktor Strum, der genialen Physiker, trotz seiner bahnbrechenden Leistungen ins Fadenkreuz der Bürokraten und Parteibonzen gerät, sodann wieder im Haus „Eins Strich Sechs“ in Stalingrad, in dem sich zwischen der Funkerin Katja und dem Soldaten Serjoscha Schaposchonikow eine Liebesgeschichte entwickelt, die der Hauskommandeur Grekow selbstlos deckt, wobei der Politkommissar Krymnow, der erste Ehemann von Genioa Schaposchnikows ein unrühmliches Gastspiel gibt, schließlich in den Aufmarschzonen nördlich der Wolga, wo Panzerkommandeur Nowikow, Genias zweiter Mann,  auf den Befehl zum Losschlagen wartet und sich derweil mit dem gerissenen Politkommissar Getmanow herumschlagen muss. Noch immer sitzen Mostowskoi und seine Gesellen in einem deutschen Lager, wo sie vergeblich einen Aufstand planen und erschossen werden, was der Leser in einer frappierend kurzen Notiz erfährt. Am erschütterndsten aber sind die Passagen über den Aufbau der deutschen Vernichtungsmaschinerie und die konkrete Schilderung einer Vergasung zu lesen. Auf allen Schauplätzen, in allen Entscheidungssituationen blicken die beteiligten Menschen im Angesichts des Todes immer aufs Neue auf ihr Leben zurück, geben sich Rechenschaft vor sich selbst, beschwören Szene aus der Vergangenheit und versuchen mit sich selbst ins Reine zu kommen. Dabei tritt die  Wesensgleichheit von Stalinismus und Hitlerismus für den Leser von Kapitel zu Kapitel immer unübersehbarer hervor. Immer deutlicher entfaltet sich auch die Ethik des Buches, die allen Ideen vom „Guten“ abschwört, weil die Idee des Guten immer Verderben für die vermeintlich Nicht-Guten, seien es Juden oder Kulaken,  mit sich bringt. Wirklich ethisch ist nur die „Güte“, d. h. die voraussetzungslose Hilfe eines Menschen für einen anderen ohne Frage nach Verdienst, Nähe, Rasse oder Schuld.

 

Der dritte Teil (745-1044) spielt vor dem Bühnenbild der  Entscheidung in Stalingrad; d. h. der Einkesselung der 6. Armee und die Gefangennahme von Generalfeldmarschall Paulus. Mitten im Siegeslauf wird der überzeugte Krymnow verhaftet und in die Folterkeller der Moskauer Lubljanka verschleppt. Die minutiöse Darstellung der seelischen und physischen Folter, denen die Gefangenen in der Lubljanka unterworfen werden, gehört zu den eindringlichsten Passagen des Werkes, auch wenn der Leser mit Krymnow wenig Mitleid empfinden wird, hat Krymnow doch als linientreuer Bolschewik selbst unzählige Menschen denunziert und dem Tode ausgeliefert. Umso tragischer, dass  Genia Schaposchnikowa, die den Panzerkommandeur Nowikow liebt, sich aus Pflichtgefühl wieder ihrem geschiedenen Mann zuwendet. Womöglich noch beeindruckender als die Geschichte von Krymnows Sturz ist der weitere Werdegang des Physikers Viktor Schaposchnikow, der trotz seiner Verdienste um die Weiterentwicklung der Mikrophysik in das Räderwerk des bolschewistischen Mobbings gerät und verloren scheint – bis ihn Stalin eines Tages anruft und belobt, womit alle seine Schwierigkeiten sofort behoben sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der alle Menschen seiner Umgebung, die ihn bereits fallen gelassen hatten wie eine heiße Kartoffel, sich ihm in der allerfreundlichsten Weise zuwenden als sei nichts geschehen, gehört für mich zu den großen literarischen Miniaturen über die totalitäre Herrschaft des 20. Jhdts. Dass Viktor dann, gerade selbst errettet, seinen Namen für eine niederträchtige Kampagne gegen andere Wissenschaftler hergibt, kann dann kaum noch überraschen. Der graue Überstaat bricht vor allen den Menschen das moralische Genick, die sich zu nahe mit ihm einlassen.

Das Buch endet ohne einen bündigen Abschluss, denn das Leben kennt keinen Abschluss. Wird Genia Krymnow nach Sibirien folgen? Wird Nowikow durch die allgegenwärtige Denunziation ebenfalls stürzen oder vorher einen Soldatentod sterben? Was wird aus der Liebe von Viktor und Mascha? Und vor allem: was wird aus Russland, das dabei ist, den Krieg gegen Deutschland zu gewinnen, dessen größter Feind aber noch immer unbesiegt im Kreml sitzt?

Ein Werk, das seinesgleichen sucht. Für mich neben Bolanos „2666“, einem ähnlich monumentalen Werk, das herausragende Leseerlebnis der letzten Jahre.

 

 

 

 

 

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