Erst jetzt, sechzig Jahre nach dem Ende des Krieges, beginnt die Erinnerung an die schlimmsten Massenvertreibungen der Geschichte Gestalt anzunehmen. Die Mehrzahl der 14 Millionen Deutschen, die am Ende des Krieges ihre Heimat verloren, sind heute allerdings schon tot, und literarische Zeugnisse aus dieser Zeit sind echte Mangelware. Ein solches Zeugnis ist das vorliegende Buch über das Ende Sudentendeutschlands in den jahren 1945 nund 1946. Der Roman „Nacht über Sudeten“ beschreibt am Beispiel des böhmischen Ortes Komotau und seiner Umgebung das Schicksal der sudetendeutschen Bevölkerung, die ab dem Mai 1945 schutz- und wehrlos der Willkür der Sieger preisgegeben war.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des sudentendeutschen Bauernsohnes Gerhard, seiner Schwester Helga und ihrer Eltern, die wie ihre Nachbarn zuerst den Einmarsch der Russen, dann die Besitz- und Machtübernahem der Tschechen erleben. Gemessen an den schrecklichen Exzessen, die sich die Nazis in Russland und die Rote Armee in Ostpreußen haben zuschulden kommen lassen, läuft die Besetzung möglicherweise noch glimpflich ab – trotzdem werden Frauen vergewaltigt (so etwa Gerhards große Liebe, die blutjunge Ilse), unliebsame Nachbarn denunziert und erschossen und alle Besitzverhältnisse von unten nach oben gestülpt. SS-Leite, die nicht mehr rechtzeitig das Land verlassen konnten, werden öffentlich gelyncht, Helfershelfer ohne genaue Feststellung ihrer Schuld erschossen. Aber auch der überwiegend unpolitischen Mehrheit der sudetendeutschen Bevölkerung geht es bald an den Kragen. Hofften die meisten noch, dass nach einer turbulenten Übergangsphase das Leben in der Heimat weitergehen würde, wird bald zur Gewissheit, dass nach den Benes-Dekreten die Gesamtheit von drei Millionen Menschen aus einem fast durchweg rein deutschen besiedelten Gebiet vertrieben werden soll. „Das ganze Land lag wie unter einem Pesthauch. Wenn man sich Abends ins Bett legte, hatte man Angst vor der Nacht, und wenn man am Morgen wach wurde, fürchtete man sich vor dem nächsten Tag. Jeder zitterte davor, als erster evakuiert zu werden, und hoffte, der andere würde es sein.“ (S. 124) Am Ende aber trifft es alle. Tschechen aus allen Teilen des Landes kommen in die Dörfer, schreiten die Straßen ab, inspizieren die Häuser und hängen auf den Höfen, die sie in Besitz nehmen wollen, Stalin und Benes-Bilder auf. Die alten deutschen Besitzer werden bis zur Evakuierung als Zwangsarbeiter herangezogen und bringen für die neuen Herren die Ernte ein. Denkmäler einer fünfhundertjährigen Geschichte müssen von den Deutschen selbst abgerissen werden, und auch wenn manche der sudetendeutschen Zwangsarbeiterbrigaden diese Denkmäler trotzig in der heimischen Erde verstecken, ändert, dass nichts am Ende Sudententdeutschlands. Nachdem sich der Vater erschossen hat und die Mutter an den Folgen eines Gehirnschlages verstorben ist, verlässt Gerhard als einer der letzten das Dorf.
Bruno Herr hart seine Geschichte mit großem Takt erzählt. Die historischen Hintergründe, die zum Drama des Sudentelandes geführt haben werden ebenso wenig verschwiegen, wie das Leid der Tschechen unter der deutschen Besatzung. Die Sprache ist einfach und funktional, ebenso wie die Charaktere, die mitunter allerdings ein wenig zu stark als reine Gedanken- und Gefühlsträger hervortreten. Aber über dem ganzen Buch liegt doch die Aura einer großen Traurigkeit, von der erst heute wieder gesprochen werden darf.