Das Besondere dieser Liebesgeschichte besteht in ihrer mehrfachen Gebrochenheit. Vordergründig ist es die Liebesgeschichte eines Fünfzehnjährigen, erinnert zweitens aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte durch den Autor selbst und drittens kommentiert durch die Lehrsätze der iranischen Liebeslyrik, insbesondere von Ibn Arabi (1160-1238), einem islamischen Sufi, den es von Spanien über Nordafrika bis nach Damaskus verschlug, wo er auch verstarb.
Schnitt und Start. Ein fünfzehnjähriger Junge, der noch gar nicht in die Raucherecke eines Gymnasiums darf, verliebt sich in eine bildschöne ältere Mitschülerin, eine angehende Abiturientin, die ihn gegen jede Wahrscheinlichkeit bemerkt und sich mit ihm einlässt. Eine solche Wald- und Wiesen-Verknalltheit gewinnt natürlich gleich eine andere Dimension, wenn man sie mit den Perspektiven der persischen Liebeslyrik veredelt wird. Dann entsteht aus dem Hormonstau des Pubertanten eine „jähe Aufwallung“, eine Form der Liebe, die nicht durch gute Taten, nicht durch das Hören sondern – man kann es kaum glauben- „durch die Augen“ hervorgerufen wurde. Die dabei frei werdenden Gefühle kann man sich kaum gewaltiger vorstellen, denn nach Ibn Arabi kommt allein die Liebe des ganz jungen Menschen dem höchsten aller Befindlichkeiten, dem Versinken des Mystikers in Gott, gleich.
Jedenfalls lässt sich die „Schönste“ mit dem kleinen Kermai (KK) ein, es kommt zu einem ersten Kuss, woraufhin die Verzauberung immer extremere Formen annimmt. KK besucht seine Schulhofliebe noch am gleichen Tag in der Kneipe, wird mit in die WG genommen, wo die nun die körperliche Vereinigung ansteht. Wider erhebt Ibn Arabi mahnend aus dem Off seine Stimme. „In Wirklichkeit liebt niemand die geliebte Person um ihretwillen. Man liebt sie einzig und allein um seinetwillenl Das ist die Wahrheit, ohne jeden Zweifel.“ Auf der anderen Seite gilt aber auch: Die Anschauung Gottes ist nur in der Verkörperung, in der Substanz, möglich, und die Anschauung Gottes ist in den Frauen die „stärkste und vollkommenste“. Verstehe einer die Sufis.
Endlich kommt es auf dem Matratzenlager der Schönsten zum Akt, im Fokus der persischen Liebeslyrik „saugt“ der kleine KK nun an Gott, und der „Weinfluss der Liebe“ fließt durch seinen Körper“ ( Der Weinfluss der Liebe ist nach der iranischen Liebeslyrik nur einer der vier Paradiesflüsse, die nach Baha-e-Walad durch den Körper fließen – die anderen drei sind der Honigfluss der Eintracht zwischen Ehegatten, der Milchfluss der Anteilnahme und der Lebensfluss des Wissens). Leider floss der Weinfluss der Liebe etwas zu schnell, denn als er in sie eindrang, „verlor er die Herrschaft übers Schamglied , das sich mit wenigen, mehr nachgereichten oder gar simulierten Stößen ergoss.“(S.53)
All das vollzieht sich in einer Epoche, die dem Autor wie dem Leser von heute aus fremder vorkommen mag als das Mittelalter: in der Epoche der Birkenstockschuhe und der Latzhosen, in der sich die Männer aus Solidarität neben die pinkelnden Frauen hockten. Die Friedensbewegten sind aber nicht nur unerotisch bis in die Socken sondern auch unordentlich, denn die Angleichung der Geschlechter vollzog sich innerhalb der neuen Lebensformen nicht so, das sich etwa die Männer den Frauen anpassten und Hausarbeiten übernahmen, sondern so, dass sich die Frauen den Männern anpassten und keinen Schlag mehr im Haushalt machten. KK nimmt diesen Umstand übrigens zum Anlass im Überfluss seiner Liebe die Küche der WG zu putzen, was die Schönste, aus der Schule heimgekehrt, so begeistert, dass sie mit ihm den ganzen Nachmittag auf ihr Matratzenlager verschwindet.
Insgesamt drei Nächte darf KK das Lager der Schönsten teilen, eine Zeit der grenzenlosen Beglückung, in der die Schönste sogar zu ihm steht, als ihre Eltern in der WG erscheinen. Gleichwohl machen sich auf der „Plateauphase der Verzückung“ bereits die ersten Schattenseiten bemerkbar: Der kleine Tod nach dem Erguss, die latente Unruhe und Reaktionsbereitschaft in der Gegenwart der Geliebten und sogar Eifersucht vor den ersten Anzeichen der Trennung – wieder orchestriert mit der Partitur orientalischer Weisheit. „Geh mir aus den Augen denn die Liebe, die ich zu dir empfinde, nimmt mich so in Beschlag, dass ich keine Zeit für dich habe“, ruft der extrem eifersüchtige Madschnuns der schönen Leila zu. KK, durchaus nicht auf den Kopf gefallen, interpretiert seine Passion jedoch ganz anders: großspurig spricht er von der Parallele der „Visio Beatifica“ und der Verliebtheit, ein Gedanke, den er aus dem Buch von Aldous Huxleys „Pforten der Wahrnehmung“ klaut, dass er auf dem Klo der WG findet.
Das Ende kommt schnell und prosaisch. Plötzlich will die Schönste nichts von ihm wissen, lässt sich am Telefon verleugnen und ist für ihn einfach nicht mehr erreichbar. KK dreht durch, stürmt den Oberstufentakt, reißt alle Klassentüren auf, bis er die Geliebte entdeckt, um dann aufs Pult zu springen und zu brüllen: „Ich liebe dich!“ Damit ist natürlich alles verloren, und die Zeit des Abschieds beginnt, die Zeit des Leidens, die in der Liebe immer viel länger dauert als die Zeit der Verzückung. “Die Liebe ringt einen nieder…“ kommentiert Ibn Arabi, obwohl hier auch Hölderlin denkbar gewesen wäre: „Denn die Liebe beuget gewaltiger…“ Und Al Wasiti legt noch einen drauf: „Überall gibt es Barmherzigkeit, nur nicht in der Liebe“, führt er aus. Und weiter: „Die Liebe zwingt zur Grausamkeit, ohne dass der Täter grausam sein will.“
Ich habe dieses Buch gerne und mit Vergnügen gelesen, obwohl es über die Liebe von den Sufis nichts wirklich Neues zu erfahren gab. Aber das macht nichts, denn die Geschichte hat in ihrer zurückhaltenden Selbstrelativierung, in ihrer liebevoll-distanzierten Retrospektive etwas Zauberhaftes. An die Identität der Liebe und der religiös-mystischen Verzückung glaube ich weder allgemein noch in dem vorliegenden Fall, denn die Liebe des kleinen KK ist selbstbezüglich bis zum Abwinken, und die „Schönste“ bleibt als Person vollkommen undeutlich. Dass der Autor „niemals tiefer geliebt“ hat, als in jener Woche, kann ich ihm auch nicht abnehmen, denn die Tagebücher des kleinen KK geben das nicht her, und so genau auch ist die Erinnerung des erwachsenen Mannes nicht, so dass für mich ein ganz anderer Eindruck entsteht. „Große Liebe“ ist ein Roman, in dem ein reifer Autor seine frei flottierende Sehnsucht in die Geschichte einer Jugendliebe zurück projiziert und mit seinen Kenntnissen der iranischen Liebeslyrik garniert. Warum aber auch nicht? Möglicherweise hat er bereits die Phase erreicht, die bei Walser „Jenseits der Liebe“ heißt und aus der heraus überhaupt erst eine solche Gesamtbetrachtung möglich ist.