„Spielen“ ist der dritte Band von Karl Ove Knausgards groß angelegten Romanprojektes „Min Kamp“, das aus gutem Grund in Deutschland nicht im Originaltitel sondern unter dem Namen „Das autobiografische Projekt“ erscheint. Im Unterschied zu „Sterben“ und „Lieben“ ist „Spielen“ eine zusammenhängend Erzählung, die im Wesentlichen linear und chronologisch verfährt.
Die erste Szene des Romans beschreibt, wie ein Mann und eine Frau mit einem viereinhalbjährigen Jungen und einem acht Monate alten Baby an einer Haltestelle in Südnorwegen aussteigen, um ein Haus zu beziehen. Der Mann ist der Vater des Autors, eine überaus herrische Erscheinung, der das Leben des kleinen Karl Ove von Anfang an überschattet und der bereits im Mittelpunkt des Romans „Sterben“ stand. Die Frau ist die gütige Mutter, die von diesem Mann später verlassen werden soll, der Junge ist Yngwe, der Bruder des Autors, und das Baby ist Karl Ove Knausgard selbst.
Damit beginnt eine Kindheitserzählung, wie ich sie noch nie gelesen habe, eine lückenlose Aufarbeitung der persönlichen Erinnerungen von den nebelhaften Anfängen der Kleinkindzeit bis in die gleißende Gegenwärtigkeit des beginnenden Jugendalters, wenn jede Wahrnehmung zugleich von sich weiß, dass sie eine Wahrnehmung ist. Die Quelle dieser Kindheitssaga ist die Erinnerung des Autors, die nicht einem Buch sondern eher einem Gestalter gleicht: „Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist. Niemals ist der Wahrheitsanspruch entscheidend dafür, ob das Gedächtnis ein Ereignis richtig oder falsch wiedergibt. Entscheidend ist der Eigennutz. Das Gedächtnis ist pragmatisch, hinterhältig und listig, allerdings nicht in feindseliger oder boshafter Weise, es tut im Gegenteil alles, um seinen Wirt zufriedenzustellen. Manches verschiebt es ins leere Nichts des Vergessens, manches verdreht es bis zur Unkenntlichkeit manches versteht es galant falsch, manches, und dieses manches ist so gut wie nichts, bleibt ihm scharf, glasklar und korrekt in Erinnerung. Doch zu entscheiden, was korrekt in Erinnerung verbleiben soll, ist dir niemals vergönnt.“ (S. 15) Geleitet von dieser autonomen Kraft der Erinnerung entfaltet sich die Lebenswelt des Kindes im Neubaugebiet von Tromoy, immer konturierter werden die Personen seines Umfeldes, die Freunde, Schulkameraden, die Lehrer und Bekannten, die Mutter und immer wieder der Vater. Die Einschulung setzt den ersten gewaltigen Kontrapunkt im Leben des Jungen, den plötzlich agieren da so viele Kinder, in deren Dunstkreis man sich behaupten muss. Aus dem naiv egozentrischen Kind, das den Sinn der Welt gleichsetzt mit dem, was es wünscht, wird ein Wesen, dass sich selbst mit den Augen der anderen sehen lernt, was so schmerzhaft ist, dass der kleine Karl Ove darob in dunkle Löcher fällt. Noch nie habe ich G. H. Meads berühmte sozialpsychologische Unterscheidung von „I“ and „me“ so anschaulich ins Literarische transponiert gefunden wie in diesen Passagen.
Zwei Empfindungen bedrängten mich, je weiter ich mit der Lektüre fortschritt: die eine war: ja, genauso war es gewesen, das habe ich auch erlebt – die wahnsinnige Lust am Zündeln, die staunenswerte Entdeckung, dass auf der Luftmatratze der Bauch kalt und der Rücken heiß ist, die Scham vor den Geräuschen der Erwachsenen auf de Toilette und die anfängliche Wahrnehmung der Mädchen als unbekannter Wesen, die nur dazu da sind, um ihnen an den Haaren zu ziehen. Die andere Empfindung, die mich erfüllte war nostalgischer: diese Kindheit, die Knausgard beschreibt und in der sich viele seiner Leser wiedererkennen, gibt es nicht mehr. Das problemlose Herumstreunen auf den Straßen, weil immer ein Kind zuhanden war, mit dem man spielen konnte, das umstandslose Schellen und mit der Frage „Kommt der Tore raus zum Spielen?“ ist Geschichte, denn die Kinder sind nicht mehr da. Umso schöner erscheinen mir die zahlreichen Passagen, in denen die Poesie einer vergangen Kindheit beschworen wird. „Draußen regnete und stürmte es weiter. Die Bäume außerhalb des Schulgeländes schwankten und knarrten, und als wir nach dem Ende der Pause in die Turnhalle gingen, drückte der Wind in Böen mit solcher Wucht gegen die hohen Wände, dass es sich manchmal anhörte, als schlügen Wellen gegen sie. Es heulte und pfiff in den Lüftungsschächten, als wäre das Gebäude lebendig, ein riesiges Tier voller Räume, Gänge und Schächte, das sich neben der Schule hingelegt hatte und in seiner Mutlosigkeit leise einsame Klagelieder vor sich hin sang.“ (S. 465) Schließlich erwachen die Gefühle im kleinen Karl Ove, er „geht“ mit den ersten Mädchen, verliebt sich, verliert und gewinnt und fällt in die Kellergewölbe des Liebeskummers, in denen er im späteren Leben noch so oft würde schmachten müssen. Und immer wieder der Vater, der mit seiner Strenge bei jeder nur denkbaren Gelegenheit das Kind in Panik versetzt, so dass alle aufatmen, als er für eine Weile das Haus verlässt um anderswo eine Graduierung nachzustudieren. Am Ende verlässt die Familie Tromoy und zieht um. Ein letztes Mal trifft der Junge seine Freunde und die Mädchen, ehe er den Ort verlässt und sich einer neuen Welt zuwendet.
Ich habe dieses Buch mit großer Anteilnahme gelesen und fühlte mich am Ende auf eine merkwürdige Weise beglückt und bereichert. Zugleich war mir klar: ich hatte nicht nur einen Schmöker gelesen, sondern mich mit wirklicher Literatur beschäftigt, ohne dass ich auf Anhieb hätte sagen könne, worin das Besondere, das Literarische, an dem vorliegenden Buch bestehen sollte. Es ist nicht nur die geschliffene Sprache, die in der Übersetzung von Paul Berf ganz offensichtlich ihren Rang gehalten hat, es ist nicht nur die perfekte Strukturierung der Erzählung, die scheinbar so leicht daherkommt, was immer den Meister verrät, sondern die Einsicht, wie kostbar unsere Erinnerung ist, denn sie ist die Hülle unseres Ich und das einzige, was immer bleibt. Wobei es egal ist, ob die geschilderte Kindheit des Autors authentisch oder nachgedichtet ist – sie ist eine exemplarische, mitreißende und anrührende Saga über die Menschwerdung eines Kindes, hundertmal anschaulicher und informativer beschrieben als in den Lehrbüchern der Soziologie und Pädagogik und insofern auch ein Beweis für die Überlegenheit der Dichtung gegenüber der Wissenschaft.