Es ist nicht immer ein Vorteil, seine literarische Karriere mit einem Volltreffer zu beginnen, denn alles was nachher kommt, hat sich vor diesem hohen Maßstab zu behaupten. So verhält es sich auch mit Andre Makines Welterfolg „Das französische Testament“, dass die Latte für alle kommenden Werke recht anspruchsvoll einjustierte – vielleicht zu hoch, denkt man, wenn man „Russisches Reqiuem“ liest. Vieles ist ähnlich fast identisch wie das „Französische Testament“: der poetische, mitunter sehr getragene Ton, die Technik, ganze Epochen mit Hilfe von biographischen Skizzen plastisch heraufzubeschwörenden – auch die Fähigkeit zu Entwicklung ungemein treffender Metaphern und Bildern ist ungebrochen. Die Geschichte vom kleinen Vögelchen, das von den Gefangenen des GULAG unter Lebensgefahr großgezogen wird, ehe es eines Tages über den Zaun davonfliegt und seine Retter zurücklässt, wird keiner so schnell vergessen, auch nicht die Schilderungen aus den bestialischen Kämpfen des Zweiten Weltkrieges. Manches ist aber auch anders, zum Beispiel ist der epische Einzugsbereich breiter als im „Französischen Testament“. Bürgerkrieg, Kollektivierung und kommunistische Machtergreifung, zweiter Weltkrieg und die Nachkriegszeit einschließlich des Zusammenbruches der UdSSR werden in einem Buch behandelt, gespiegelt in den wechselvollen Schicksalen dreier Generationen. Zuerst ist da Großvater Nikolai, der seine Frau vor dem kommunistischen Terror errettet und sich durch die Säuberungen und Kollektivierungen manövriert, dann sein Sohn Pawel, ein Held des Weltkrieges, der am Ende vor dem roten Terror in den Kaukasus flieht und seinen Häschern doch nicht entkommen kann. Nikolais Enkel und Pawels Sohn, der Erzähler des Buches, agiert zunächst als Arzt, dann als Geheimagent im Dienste „des Reiches“ ehe er an Ost und West verzweifelt und nur noch nach Rache für seine ermordete Liebe arbeitet. Auch wenn in dieser Kurzzusammenfassung die Dramatik einzelner Handlungsketten nicht zur Geltung kommt und Makines Epik an Kraft und Poesie nach wie vor beeindruckend sind, lässt das Werk seinen Leser am Ende etwas ratlos zurück. Wieso sitzt plötzlich der Westen und seine dekadenter Lebensart neben dem Bolschewismus auf der Anklagebank, also wären sie zwei Varianten des gleichen Übels? Hat denn der Autor von den Ländern, die ihm Asyl geboten haben, auch schon wieder die Nase voll, um sich in wohlfeiler Rundumkritik zu verlieren? Auch die Charakteristiken von Großvater, Vater und Sohn sind nur schwer unterscheidbar. So spannend die Geschichten auch sein mögen die sie erleben – so sind sie doch nur Gedankenträger und keine wirklichen literarischen Figuren. Alles in allem hat man das Gefühl, als hätte man im „Russischen Requiem“ die Skizze eines erheblich größeren Werkes vor sich, das auszuführen, dem Autor der scholochowsche Atem fehlte, so dass das Werk ein beeindruckender Torso geblieben ist, der Bedeutsames ahnen lässt, ohne es wirklich einzulösen.