Seit Cormac McCarthys Welterfolg „Die Straße“ wird die europäische Literaturszene endlich auch auf die epochale „Border Trilogie“ des gleichen Autors aufmerksam, einem Tausendseitenwerk, das in Deutschland allerdings nur in drei Teilen erschienen ist. Der vorliegende Band „Grenzgänger“, der zweite Band der Trilogie, kann aber auch ohne Kenntnis des ersten Bandes „All die schönen Pferde“ gelesen werden. Wieder geht es um die amerikanisch-mexikanische Grenzregion, die neue „Frontier“, die nicht als Grenze zweier Staaten sondern als Schnittstelle zwischen Zivilisation und Naturzustand, Gesittung und Barbarei erscheint, wobei diese Schnittstelle keinesfalls mit den Landesgrenzen identisch ist sondern mitten durch Mensch und Natur hindurch verläuft.
Im Mittelpunkt der Handlung steht der 16jährige Billy Parham, der mit seinen Eltern und seinem 14jährigen Bruder Boyd auf einer Farm in New Mexiko aufwächst. Eines Tages fängt Billy eine trächtige Wölfin, die von Mexiko kommend die Grenze überschritten hatte und die Viehzüchter beunruhigte. Doch anstatt das Tier zu töten, entschließt sich Billy, die Wölfin nach Mexiko zurückzubringen, ein aberwitziges Verlangen, rührend, sinnlos und unbegründet, das am Ende schrecklich scheitert, als Billy die hochträchtige Wölfin erschießen muss, um sie vor den barbarischen Hundekämpfen einer entmenschten Horde zu bewahren.
Nach Hause zurückgekehrt findet er seine Eltern ermordet, die Farm geplündert und alle Pferde geraubt. Nur mit seinem kleinen Bruder Boyd, der das Massaker überlebte macht er sich auf, um in Mexiko die Mörder seiner Eltern und die gestohlenen Pferde zu suchen. Auf ihrer Reise treffen Billy und Boyd Schurken und Altruisten, Gute und Schlechte, Gleichgültige und Rasende und relativ schnell auch ihre Pferde, die sie zuerst zurückerhalten und am Ende bis auf das treue Pferd Nino wieder verlieren. Die Mörder ihrer Eltern finden sie nicht, stattdessen befreien sie eine junge Indianerin aus der Gewalt zweier Vergewaltiger, woraus sich eine nur ganz zart angedeutete Liebesgeschichte zwischen dem jüngeren Bruder Boyd und der Indianerin entwickelt. Aber keine Liebe oder Leid: Als Boyd und die junge Indianerin eines Morgens im Hochland von Mexiko auf Nimmerwiedersehen verschwinden sind, ist Billy ganz alleine. Nur mit seinem Pferd Nino kehrt er in die USA zurück, versucht erfolglos sich zur Armee zu melden ( der Zweite Weltkrieg war gerade ausgebrochen ), schlägt sich als Farmarbeiter und Viehtreiber durch, ehe er zum dritten Mal nach Mexiko aufbricht, um seinen Bruder zu suchen. Doch er findet nur noch sein Grab, das er ausbuddelt, um den Leichnam des Bruders mit in die Heimat zu nehmen.
Soweit die Handlung, die schon für sich alleine genommen das 440 Seitenwerk locker trägt. Aber das Großartige an dem vorliegenden Buch liegt nicht in der Handlung sondern in der grandiosen und bildmächtigen Sprache, mit der der Autor seine Geschichte entfaltet. Wie immer lässt McCarthy im Hochland die Blitze krachen, die Pferde scheuen, die Pistolen rauchen und den Regen sintflutartig vom Himmel stürzen, nur von der Innenwelt seiner Protagonisten erzählt er nichts – mit anderen Worten: er versetzt den Leser in eine Position, als befände er sich direkt an der Seite von Billy und Boyd im Angesicht der Straßenräuber und Halunken des mexikanischen Hochlandes, eine literarische Technik, die an Unmittelbarkeit kaum zu übertreffen ist. Dazu nur einige Beispiele: Als Billy die erschossene Wölfin in den Bergen begräbt, spürten die noch ungeborenen „kleinen Wölfe in ihrem Bauch, wie sich die Kälte um sie herum zusammenzog und heulten stumm die Dunkelheit an. Er begrub sie alle, häufte die Steine darüber und ritt weiter.“ Billy erwacht in einem nächtlichen Sommergewitter und sieht durch die Planken der verfallenen Hütte sein Pferd in der Sierra stehen – wie ein Geist von den Blitzen am Horizont beleuchtet. Wo ist der Regisseur, der diese gespenstische Szenen ins Bild setzt? Schrecklich, die Binnengeschichte des Blinden, dem in den Wirren der Revolutionskriege von einem ausländischen Söldner die Augen ausgesaugt werden und der der Welt mehr und mehr abhanden kommt. Geradezu apokalyptisch die Passage, als kurz vor Ende der Handlung ein abgrundtief psychotischer Straßenräuber die Gebeine des toten Boyd schändet und dem Pferd Nino das Messer in die Brust rammt. Erschütternd der Auftritt eines vollkommen herunter gekommenen Hundes auf der vorletzten Seite des Buches, in dessen Elend sich noch einmal alles Leiden aller Kreaturen zusammenballt.
Ganz trübsinnig kann man werden, wenn man all die Härten miterlebt, denen der junge Billy ausgesetzt wird, der am Ende die Hände vor das Gesicht schlägt und weint. Wenn da nicht jene Menschen wären, die die Welt trotz allem noch im Lot halten – wie der Arzt, der Sheriff, der Ranchero, der indianische Gerente und die vielen anderen, die unplanbar und doch zuverlässig auftauchen, um die Geschichte vor dem endgültigen Versinken in den Abgrund zu bewahren. So steckt bei aller Tristesse auch ein Quäntchen Hoffnung in McCarthys monumentalem Werk, das Welt und Mensch so zeigt wie sie sind und nichts beschönigt