Was wurde eigentlich aus John Grady Cole, der in „All die schönen Pferde“ eine atemberaubende Reise nach Mexiko unternahm? Und was macht Billy Parham, dessen tragisches Jugendschicksal im Buch „Grenzgänger“ berichtet wurde? Wenn man dem vorliegenden Band „Land der Freien“, dem dritten und letzten Teil von Cormac McCarthys großer „Border Trilogie“, glauben darf, sind inzwischen zehn Jahre vergangen, und John und Billy arbeiten als Cowboys auf einer Farm im texanischen Süden. Sie hüten Rinder, reiten Pferde zu, reparieren Zäune und besuchen gelegentlich zusammen mit ihren Kumpanen die Bordells im mexikanischen Ciudad Juarez. Bei einem solchen Ausflug trifft John Grady Cole die blutjunge Prostituierte Magdalena, die unter der Knute des mexikanischen Zuhälters Eduardo ihr Gewerbe betreiben muss. Übergangslos verliebt sich John in das geheimnisvolle und merkwürdig passive Mädchen, was nicht nur seine Kumpane sondern auch den Leser überrascht. Aber wie dem auch sei – so wie John Grady Cole schon in „All die schönen Pferde“ einen einmal gefassten Vorsatz eisern verfolgt, so bereitet er nun ein gemeinsames Leben für sich und die schöne Magdalana vor. Er verkauft sein Pferd und seine Waffe und erwirbt ein Haus, das er für sich und seine künftige Frau herrichtet, als Magdalena plötzlich mit durchgeschnittener Kehle im Leichenschauhaus von Ciudad Juarez liegt. In einem finalen Messerkampf tötet John den Zuhälter Eduardo, aber nur um gleich anschließend an seinen tödlichen Kampfwunden in den Armen von Billy Parham zu sterben.
Das ist im Wesentlichen die Geschichte von „Land der Freien“ – wie immer langsam und stimmungsvoll erzählt und von einprägsamen Bildern durchsetzt, ein schönes und lesenswertes Buch, das aber bei weitem nicht die Wucht und die Durchschlagskraft der ersten beiden Bände erreicht. Woran liegt das?
Zunächst ist es in „Land der Freien“ kaum möglich, John Grady Cole und Billy Parham zu unterscheiden. Sie waren in „All die schönen Pferde“ und „Grenzgänger“ ungemein starke Charaktere, doch nun zeigt sich: sie sind identisch! Auch das Romanpersonal, seien es die Kumpels, die herumirrenden Mexikaner oder die alten Männer, bleiben literarisch blass. Die Zeitumstände, die Agonie der Rinderwirtschaft im Texas der späten Fünfziger, werden allenfalls angedeutet, aber nicht wirklich entfaltet. Sogar die dramaturgische Feinsteuerung vermag nicht immer zu überzeugen – oder wie soll man die groteske Messerkampfszene verstehen, in der Eduardo während des tödlichen Kampfes eine ganze philosophische Litanei heruntersalbadert, ehe ihm John endlich das Messer in den Kiefer steckt? Dann wieder plätschert die Handlung Kapitel für Kapitel dahin, so dass man zum ersten Mal bei Cormac McCarthy die Versuchung spürt, einfach ein wenig vorzublättern.
Was ist los mit Cormac McCarthy? Hat er etwa ein schlechtes Buch geschrieben? Möglich – vielleicht aber auch nicht. Denn das die beiden Protagonisten nach ihren heldenhaften Jugendtagen im dritten Teil der Trilogie gleichsam verebben, entspricht so ganz der Mccarthyschen Weltsicht. „Als junger Kerl hast du Vorstellungen, wie alle sein soll,“ heißt es auf Seite 91. „Dann wirst du n bisschen älter und nimmst einiges davon zurück. Ich glaub, am Ende versuchst du einfach bloß, den Schmerz möglichst gering zu halten.“ So bleibt auch Billy Parham nach Johns Tod im Jahre 1958 noch fast 45 Jahre lang ein einfacher Cowboy, bis er schließlich als als 78jähriger frierend unter einer Hihgwaybrücke schläft.
Meiner Ansicht nach hätte das als Ende der Trilogie schon gereicht, doch McCarthy kann der Versuchung nicht widerstehen, in einem „Epilog“ der im Jahre 2002 spielt, in Gestalt eines vagabundierenden Mexikaners selbst noch ein paar grundsätzliche Worte mit dem alten Billy zu wechseln und dem Leser dabei gleichsam die Rezeptur seines Werkes unter die Nase zu reiben. Soweit ich die dabei entwickelte „poetische Anthropologie“ (Thomas Reuter) verstanden habe, gleicht das Geschick eines Menschen einem Traum, den „die Welt“ träumt, womit wohl gesagt werden soll, dass sich dieses Geschick völlig losgelöst von irgendeinem Sinn oder Telos einfach nur vollzieht. Die einzige Sinngebung, die der Mensch der Welt, die ihn also „träumt“, abgewinnen kann, ist es, von sich selbst zu erzählen, was heißt, dem Sinnlosen einfach dadurch Sinn abzugewinnen, dass ihm ein „vorher“ und „nachher“, ein „wozu“ und „warum“ zugeordnet wird, woraus sich wenigstens aus der Perspektive des erzählenden Subjektes ein Gefühl der Kontinuität ergibt. Am Ende warten ohnehin Tod und Vergänglichkeit, denen gegenüber sich der Mensch nicht anders verhalten kann als ihnen mit Würde und Bejahung entgegenzusehen. So verstehe ich die letzten sechs Zeilen des monumentalen Gesamtwerkes, die mich mit dem Buch wieder versöhnten:
„Gib einst wie Deinem Kind mir Halt,
so bist du ich, bin ich erst alt.
Die Welt wird kalt,
die Heiden rasen,
das Wort verhallt,
wird fortgeblasen.“
Amen.