McEwan: Saturday

09Henry Perowne, ein erfolgreicher Neurochirug, verheiratet mit der Anwältin Rosalind und Vater zweier Kinder, beobachtet am frühen Morgen von seinem Schlafzimmerfenster aus, wie ein Flugzeug mit brennenden Tragflächen über dem nächtlichen  London in Richtung Heathrow fliegt. Wir schreiben den 15. Februar 2003, den Tag der großen antiamerikanischen Irak-Demonstration, einen Samstag an dessen Abend bei den Perwones  Tochter Daisy und  Großvater Grammaticus zu einem Familientreffen erwartet werden.  Trotz des bedrohlichen ersten Eindrucks scheint es jedoch ein  Samstag  wie jeder andere zu werden:  bei  dem brennenden Flugzeug handelte es sich nur um einen Triebwerkbrand, der glimpflich ausging, das Squashspiel, das Perwone hallsamstäglich gegen seinen Kollegen ausficht, geht verloren, der Besuch des Neurochirugen bei seiner langsam verdämmernden Mutter im Pflegeheim verläuft so trist wie immer – nur ein kleiner Verkehrsunfall und eine  Konfrontation mit drei Halbweltgestalten fallen aus dem Rahmen. Fast zweihundert Seiten später, in denen der Leser ausführlich mit der Familiengeschichte der Perwones in all ihren Verzweigungen vertraut gemacht wurde,   brechen zwei dieser Kriminellen  in die Familienfeier der Perownes ein und konfrontieren die ganze Familie mit der nackten Gewalt. Die Katastrophe scheint ihren Lauf zu nehmen, als die Tochter Daisy, das Messer am Hals, sich  vor den Verbrechern ausziehen muss. Doch wieder  geht alles gut  aus. Vater Perowne rettet einem der Einbrecher mit einer Spontanoperation sogar das Leben, und der Tag  endet wie er begann: im heimeligen elterlichen Schlafzimmer mit der schlafenden und geliebten Frau an der  Seite des Protagonisten.

Soweit die Handlung eines beliebigen Samstags,  die natürlich nur das Bühnenbild für McEwans eigentliches Anliegen darstellt: den Entwurf eines  Zeitpanoramas, eingefangen in der Nussschale eines einzigen Tages und einer einzigen Familie. Obwohl dieses Zeitpanorama unaufdringlich entwickelt und ungemein gefällig erzählt wird, handelt es sich um ein durch und durch bedrückendes Gesellschaftsszenario. Die Perownes und ihre Bekannten gleichen Ahnungslosen, die auf dünnem Eis wandeln, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Sie sind Spätlinge, die im Vorfeld der Apokalypse (S. 208, 235) leben, ausgereifte Exemplare des postmodernen Menschen, mit all seinen verästelten Interessen, sozialen Instinkten und beruflichen Qualifikationen, die ihr Bestes geben mit  den ebenso komplexen Spätlingen und ihrer triumphierenden Subjektivität innerhalb und außerhalb der Familie zurechtzukommen.  Das ganz Andere, der Existenzkampf in der Außenwelt, die russischen Piloten, die mit einer brennenden Maschine über Wohngebiete fliegen, die Kriminalität, die Krankheiten, der soziale Bodensatz der Gesellschaft bleiben ausgeblendet, als wären es nur Imaginationen- geschaffen nur zu dem Zweck, die eigene Befindlichkeit zu stimulieren. Auch den meisten Demonstranten, die am 15. Februar 2003 mit einer gedankenlosen Doppelmoral für den Erhalt des Saddam Regimes demonstrieren, leben in einer „asnonographischen“ Scheinwelt, d. h. innerhalb einer Existenz, in der man ein falsches Bild von sich selbst und der Welt mit sich herumschleppt.  Henry Perowne ist sich zwar der Vielschichtigkeit der Irakthematik (S. 258-268)  bewusst, manchmal scheint er sogar die Brüchigkeit seiner ganzen Existenz zu ahnen, doch vordergründig scheint alles gut zu sein:  es existieren keine Ehekrisen, keine Generationenkonflikte, keine Geldsorgen, keine Krankheiten,  gibt keinen Hass und keine Neurosen, als sich  plötzlich in der Gestalt des kriminellen Baxter ihm das ganz andere, das Monströse begegnet. Baxter ist das perfekte Gegenteil von Henry Perowne, gescheitert und  neurologisch  gezeichnet als Träger des Chorea Huntington Genes, das ihn über kurz oder lang ein furchtbares Ende bereiten wird. Es gehört zu den Meisterleistungen des vorliegenden Buches, wie es dem Autor gelingt, diese Bedrohung über das halbe Buch hinweg virulent zu halten. Der Tag plätschert dahin,  der Leser erwartet hinter jeder Ecke den Veitstänzer  mit seinem Messer, doch nichts geschieht. Am Abend befürchtet man bei jeder  Türöffnung den Auftritt des Monsters, doch es sind  zunächst  nur Großvater,  Sohn  und  Tochter, die der Reihe nach zum Familientreffen erscheinen. Erst als die Ehefrau und Mutter urplötzlich mit bleichem Gesicht im Türrahmen steht, ist es passiert: sie hat, das Messer im Rücken, ihre potentiellen Mörder mit ins Haus gebracht. Aber keine Sorge: die Perownes kommen noch mal mit einem blauen Auge respektive einem Nasenbruch davon. Wo der  Leser  ein Gemetzel von Manson´schen ausmaßen erwartet, entwickelt sich ein familiäres Happy end, das zugleich  erleichtert und befremdet. Ian McEwen hat sich entschlossen, das Leben im Vorfeld der Apokalypse nicht dadurch zu verdeutlichen, dass er die Apokalypse vorführt sondern gegen jede Wahrscheinlichkeit noch einmal hinausschiebt.  Das brüchige Eis hat wider Erwarten noch einmal getragen, aber wie lange noch? Die Zeichen an der Wand werden häufiger, aber noch ist das Verhängnis nicht wirklich eingetreten. „Denk klein“  ( S. 52 ) möchte man in den Worten des vorliegenden Buches ergänzen: das große Verhängnis kommt noch früh genug Die Terror-Anschläge auf London, von denen in dem Buch des Öfteren die Rede ist, sind übrigens schon verübt worden

 

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