Gute Literatur, so haben wir es an den Universitäten gelernt, verknüpft das gesellschaftlich Relevante mit dem individuell Besonderen. Hört sich gut an. Gute Literatur entfaltet einen formal raffinierten Spannungsbogen in anspruchsvoller Prosa und zurückhaltendem Humor. Prima – aber wo finden wir solche Literatur? Ganz sicher nicht in den gängigen Bestellerlisten – wenngleich es auch bedeutende Literaten gibt, deren Bücher sich ausnehmend gut verkaufen. Zum kleinen Kreis dieser Gruppe gehört zweifellos der britische Autor Ian McEwan, der es wie nur wenige andere versteht, seine kunstvoll gestalteten literarischen Bühnenbilder mit psychologisch überzeugenden Gestalten auszufüllen.
In seinem Buch „Solar“ hat sich McEwan einem Thema verschrieben, das in seinen früheren Werken als Motiv immer schon unterschwellig mitklang, ohne jemals dominant zu werden: einer Kritik der politischen Correctness. Ein heißes Eisen fürwahr, riskiert doch jeder Autor, der gegen den rotgrünen „Neusprech“ verstößt, einen Shitstrom der Tugendwächter. McEwan versucht sich gegen diese Gefahr so gut es geht zu wappnen, indem er seinen politisch inkorrekte Hauptperson, den fetten Pysiknobelpreisträger Michael Beard, so unsympathisch wie möglich daherkommen lässt. Michael Beard ist ein durch und durch ungenderisierter Mann, er liebt Frauen, die im Bett wie am Herd ihren Herrn und Meister nach allen Regeln der Kunst verwöhnen und besitzt auch keinerlei Skrupel durch raffinierte Lügengespinste sein Leben nach diesem Gusto auszurichten. Die Frauen in dem vorliegenden Buch sind allerdings auch keineswegs nur Opfer, sie wissen sich zu wehren, gehen ihrerseits fremd, und es gelingt ihnen sogar mit den Jahren immer besser, den ungenderisierten Beard zu domestizieren.
Auf jeden Fall reist der Leser in dem vorliegenden Buch mit den Augen dieses rösigen Naturwissenschaftlers durch die kuriose Welt moderner Scheuklappen und politisch unkorrekter Todsünden, die ein jeder bei Strafe des öffentlichen Schandprangers tunlichtst vermeiden sollte Eine solche Todsünde besteht etwa darin, einem ahnungslosen Zeitgenossen bestimmte Grundstrukturen der Wirklichkeit zu erklären. Wer so verfährt, handelt „reduktionistisch“. Eine fast noch schlimmere Todsünde besteht darin, unwiderlegbare aber offenbar unbekannte Fakten in eine Diskussion einzubringen – wer sich dazu hergibt, handelt „hegemonistisch“, d.h. er dominiert unmenschlicherweise einen Gesprächspartner der nur Trotteleien von sich gibt. Und das ist „menschenverachtend.“
Man sieht: Michael Beard ist dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal verpflichtet und es fällt ihm schwer, den Kulturmüll ernst zu nehmen, der im kommunikativen Diskurs der Geisteswissenschaften wie in einer endlos arbeitenden Wideraufbereitungsanlage für Banalitäten durchgeknetet wird. Michael Beards brillante intellektuelle Karriere, die ihn sogar bis zum Nobelpreis führt, bringt es aber mit sich, dass er als Kurator und Vorstand diverser staatlicher Forschungseinrichtungen sein Leben lang mit solchen Geisteswissenschaftlern und Künstlern zu tun haben sollte. Denn wir schreiben das Jahr 2000, der Klimawandel ist in aller Munde, und allenthalben wird das Ende des Planeten verkündet. Merkwürdig ist nur für Beard nur, dass das Ende des Planeten vor allem von denjenigen verkündet wird, die gar nicht recht wissen, wie dieser Planet funktioniert. Auf Klimainformationsreise einer Reise in die Arktis muss Beard feststellen, dass er der einzige Naturwissenschaftler auf der Reise ist, während alle anderen als Künstler oder Literaten den Klimawandel mit Tänzen mit Eisbärskulpturen bekämpfen wollen. Dabei ist dem erotisch hyperaktiven Beard der Klimawandel herzlich schnuppe, ihn verblüfft nur das nahezu erstaunliche Ausmaß an Dilettantismus, mit dem Nichtfachleute über naturwissenschaftliche Themen schwadronieren, und so dauert nicht lange, bis er wegen politisch inkorrekter Äußerungen in den Fadenkreis von Feministinnen und Genderaktivistinnen und damit in den Mittelpunkt eines Skandals gerät.
Doch McEwan wäre nicht der Meister, der er ist, wenn er es mit seinem Roman allein bei einer Kritik der Klima- und Genderreligion bewenden ließe. Über diverse unterhaltsam entfaltete Irrungen und Wirrungen, Ehebrüche und Unglücksfälle, Seitensprünge und Plagiate kommt der alternde Professor, der eigentlich längst den Anschluss an den naturwissenschaftlichen Fortschritt verloren hatte, an das Manuskript eines genialen Studenten, in dem ungeahnte Möglichkeiten der Energiegewinnung aus einer gelenkten Photosynthese aufgezeigt werden. Umstandslos wird aus dem klimatheoretischen Quietisten Beard ein Apostel klimatologisch bedingten Weltunterganges, weil sich auf diese Art mögliche Patente und Geschäfte am ehesten auschlachten lassen. Wie der alternde Nobelpreisträger zwischen all diesen Aktivitäten noch Zeit findet, diverse Geliebte zu beschlafen, eine Tochter zu zeugen und im Übermaß zu futtern und zu saufen, ist nachgerade erstaunlich. Trotzdem trudelt die Klimastory und das turbulente Privatleben schließlich im dritten Teil des Buches einem furioseren Finale entgegen, das leider abrupt abbricht und den Leser dafür mit zwei literarisch ungemein ergiebigen Gefühlen zurück lässt – erstens hat er sich prächtig unterhalten und zweitens sind ihm jede Menge Fragen hochgekommen, über die er weiter nachdenken wird. Was will man von einem zeitgemäßen Roman mehr erwarten?
Alle in allem ist das vorliegende Buch ein echter Kracher, ein Werk der allerhöchsten Güteklasse, würdig für einen potentiellen Nobelpreisträger, wobei ich jedoch die Befürchtung hinzufügen möchte, das Ian McEwan diesen Preis wahrscheinlich niemals erhalten wird, weil genau die Spezies der gesinnungskorrekten Geisteswissenschaftler, die in seinem Werk so unvorteilhaft wegkommen, darüber bestimmt, wer diesen Preis erhält.