Müller: Atemschaukel

Herta Müller AtemschaukelNoch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieg begann die rumänische Regierung damit,  alle im Land ansässigen Deutschen zwischen 17 bis 45 Jahre als Zwangsarbeiter nach Russland zu verschicken. Die russische Führung hatte dies gefordert, die rumänischen Kommunisten entsprachen diesem Wunsch, verboten aber später jede öffentliche Erörterung dieser Aktion.  Wie viele deutschstämmige Männer, Frauen und Kinder   in den eisigen Ebenen Osteuropas umkamen, ist bis heute unbekannt. In einer Zeit, in der Vertreibung und Entrechtung der Deutschen in Mittel- und Osteuropa den deutschen Feuilletoneliten als eine gerechte Strafe für deutsche Missetaten galt, hat es auch niemanden interessiert. Erst jetzt, über 60 Jahre nach diesen Ereignissen, beginnt mit dem vorliegenden Buch die literarische Aufarbeitung dieser moralischen und menschlichen Katastrophe.

Der Roman beginnt mit der Deportierung der Siebenbürger Sachsen und ihre Verschickung in die Kohle- und Zementregionen der totalitären Sowjetunion. Die weit überwiegende Zahl der 64 kleinen Kapitel beschäftigt sich mit dem Lageralltag, gespiegelt aus der Perspektive  des  17jährigen Leopold, der sich in den fünf Jahren seines Lageraufenthaltes in eine Hungerwelt eingekapselt sieht, in der alles Essbare eine existentielle Bedeutung erhält. Alles unterliegt den Imperativen der Nahrungsaufnahme, sogar die Sprache wird zu einem elastischen Weltsensor, mit dem die verschiedenen Erscheinungsformen des Hungers ausdifferenziert werden. Über allem herrscht der „Hungerengel“, der Herr der Nacht und des Tages, der Stimulator des „Gaumenzäpfchens“, dass in der Hungerwelt des Lagers zum vermeintlich  größten und transparentesten  Organ wird.  800 Gramm Brot und zwei dünne Suppen erhalten die Lagerinsassen als Tagesration, die dafür bei eisiger und von Läusen aller Art geplagt, Zement transportieren, Kohlen schippen oder Kartoffeln mit bloßen Händen aus steinharter Erde ausgraben müssen. Über ihnen thronen der russische Lagerkommandant, der Kapo Tur Prikulitsch, seine geliebte Bea Zakel und die stumpfsinnige Brotausgeberin Fenja, die ihre Tage in relativ geheizten Stuben verbringen, während draußen die Menschen verhungern, verzweifeln oder sich umbringen. Wer überleben will, muss mit dem Wenigen, was er besitzt, einen möglichst ertragreichen Handel betrieben, muss  in den umgebenden Dörfern betteln oder sich auf Kosten der Mitgefangenen bereichern. Manche stehlen das Brot, das sich die Mitgefangenen morgens für die kommende Nacht zurücklegen, ein Ehemann isst seiner Ehefrau solange die karge Suppenration weg, bis diese stirbt, und der Kapo verkauft einen Grossteil der die Lagerkleidung auf dem Schwarzen Markt und gibt damit die Gefangenen dem langsamen Kältetod preis.

Dergleichen Geschichten vom Hunger, vom „Brotkriminal“, dem „Mörteltod“, der „Abendliebe“ oder der „Jackenentlausung“ bilden den erzählerischen Schwerpunkt des Buches. Die Psychologie der handelnden Personen erfährt keine sonderliche Vertiefung, weil sich alles nur um den Hunger dreht. Mehr noch, wenn es überhaupt eine nennenswerte charakterliche Eigenart der Protagonisten gegeben hat, so scheint sie im Lager immer mehr zu verschwinden, je mehr sich die persönlichen Verhältnisse dem „Nullzustand“ annähern. Auch nach der Entlassung aus der fünfjährigen Lagerhaft bleiben die Insassen für ihr Leben gezeichnet, zur „Heimatsattheit“ ihrer Familien  führt keine Brücke mehr, viele verfallen in Apathie, verlassen das Land oder versuchen wie Leopold ihre Erinnerungen literarisch zu bearbeiten.

Die rumäniendeutsche Auorin Herta Müller, deren Mutter selbst in ein Lager verschleppt wurde,  hat in der Zusammenarbeit mit dem Büchner-Preisträger Oskar Pastior für diesen Roman recherchiert und ihn nach dem plötzlichen Tod Pastiors im Jahre 2006 alleine zu Ende geschrieben. Es ist ein bewegendes und notwendiges Buch, das zu Recht auf der Shortlist des deutschen Buchpreises stand. Es vermittelt die poetisch überformte Vorstellung einer gnadenlosen Hungerwelt und zugleich auch einen Eindruck davon, wie brutal und folgenlos eine ganze Volkgruppe entrechtet wurde. Die Sprachschöpfungen zur Beschreibung der Lagerwelt, zahlreiche literarischen Miniaturen und die düstere Stimmung des gesamten Buches machen das vorliegende Werk zu einem bedrückenden  Monument vergessenen Verbrechens. Ich habe es mit großer Anteilnahme und Gewinn gelesen, wenngleich man auch nicht verschweigen sollte, dass das nahezu vollkommen Fehlen von Handlungsführung und Psychologisierung der Figuren die Lektüre ab etwa der Mitte des Werkes ein wenig mühsam macht. So faszinierend die Hungerthematik in der ersten Hälfte des Buches auch eingeführt wird, irgendwann ist sie literarisch erschöpft, ohne dass etwas Neues und Konzeptionelles geschieht. Passagenweise verwandelt sich der Roman fast in eine Art Hunger-Essay, dessen immer neue Neologismen das Werk ins reichlich Abstrakte führen.

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