Alice Munroe ist die wahrscheinlich maßgeblichste und am höchsten geschätzte Autorin von Kurzgeschichten und Erzählungen weltweit. Aber was ist an ihren Erzählungen so besonders? Hier dazu einige unsystematische Gedanken. In der Regel werden in Erzählungen nur die Hauptpersonen beleuchtet, die vor einem nur undeutlich konturierten literarischen Bühnenbild agieren. Alice Monroe verwendet jedoch eine andere Technik. Bei ihr ist das „Bühnenbild“, d. h. der Hintergrund der Erzählung, fast immer superscharf herausgearbeitet. Ihre Erzählweise gleicht in dieser Hinsicht einer Fotographie mit maximal geöffneter Blende. Alles ist ausführlich beschrieben, mitunter wird auf eine Nebenfigur die gleiche Sorgfalt verwendet wie für die Hauptfigur. Munroes Literatur verfährt wie ein Teleskop, das in das pralle Leben hineingehalten, wobei es der Autorin meisterhaft gelingt, den Leser mit wenigen Sätzen in eine neue Geschichte hineinzuziehen. Wer an Geschichten eine gewisse „Auflösung“ oder ein „hapy end“ erwartet, wrid enttäuscht werden. Die Erzählungen enden unvermittelt und l hinterlassen eine Leerstelle, die zu weiterem Nachdenken anregt. Am ehesten sind sie einer musikalisch nicht ganz aufgelösten Kadenz vergleichbar, an die sich das Ohr erst noch gewöhnen muss. Inhaltlich spielen Munroes Geschichten in einem ländlichen Umfeld. Sie handeln von Abnabelung, Auflösung und Weggehen. Kinder verschwinden und suchen ihren eigenen Weg (Kent in „Tieflöcher“ sowie Jon und Joyce in „Erzählungen“), sie werden umgebracht wie in der Erzählung „Dimensionen“ oder auch in „Gesicht“ — oder sie tingeln haltlos durch ihre Existenz ( etwa Nina in „Der Grat von Wenlock“). Die ältere Generation wird verlassen, stirbt, versteinert wie Mr. Purvis, bleibt ratlos zurück wie Sally in „Tieflöcher“ oder steht allein und hilflos Gewalttätern gegenüber („Freie Radikale“). Die Titelgeschichte „Zu viel Glück“ fällt dagegen etwas aus dem Rahmen, einfach, weil die Autorin in dieser Erzählung ein historisch verbürgtes Lebensschicksal ( das der russischen Mathematikerin Sofie Kowalewska) behandelt. In formaler Hinsicht arbeitet Munroe mit traditionellen Vor- und Rückblenden, mit Verzögerungen und Auslassungen, anhand derer es gelingt, die Entfaltung der Geschichte in der Vorstellungswelt des Lesers mit einem optimalen Spannungsbogen zu versehen. Insgesamt gleichen die zehn Geschichten des vorliegenden Buches komplexen Speisen, die langsam und mit Pausen genossen werden wollen. Ich habe niemals mehr als eine Geschichte am Tag gelesen, einfach deswegen, weil die Vielfalt der Fragen und Problemstellungen, die die Erzählungen aufwerfen, sich erst einmal „setzen“ muss. In diesem Aufrüttelungspotential, in diesem energischen Impuls zum Weiterdenken, den die Erzählungen von Alice Munroe beinhalten, liegt meiner Ansicht nach der besondere (belehrende und unterhaltende ) Wert ihrer Literatur.