Die Handlung des vorliegenden Romans spielt in der stalinistischen Sowjetunion und setzt ein im Herbst des Jahres 1933. Die Exzesse der Kollektivierung mit ihren Millionen Hungertoten sind überstanden, die Ernten werden langsam wieder ertragreicher, die rationierte Warenverteilung soll abgeschafft werden, und die Menschen beginnen wieder mit mehr Zuversicht in die Zukunft zu schauen.
Ein solcher Optimist, der an die Chancen der neuen Zeit glaubt, ist auch der 22 jährige Sascha Pankratow, ein Sprössling des Moskauer Stadtteils Arbat und Neffe des großen Bauleiters Rjasanow, der gerade im Auftrag des Politbüros das Industriekombinat von Magnitogorsk hochzieht. Zusammen mit seinen Freunden und Bekannten aus dem Arbat, der fleißigen Nina, dem verschwätzten Wadim, der edlen Lena, der kessen Warja, aber auch dem ehrgeizigen Schneidersohn Jurij Scharok, ist Sascha Pankratow ein repräsentativer Bestandteil der neuen Jugend, einer Jugend, die um die Mängel des Systems weiß, aber bereit ist, mit Hingabe und Einsatz an der Errichtung der entfalteten sozialistischen Gesellschaft mitzuarbeiten.
Über Saschas Onkel Rjasanow, über Lenas Vater Budjagin, einem weltgewandten Diplomaten im höchsten Dienst, oder Wadims Vater Marrassejewitsch, einem Prominentenarzt, ist dieser Zirkel mit den allerhöchsten Kreisen verbunden, an deren Spitze Stalin selbst auftaucht, der fast schon allmächtige Führer des Politbüros, der wie eine Spinne im Netz Tag und Nacht an der Sicherung seiner Herrschaft arbeitet.
Aber diese Herrschaft, so jedenfalls Stalins eigene Einschätzung, ist bedroht. Auch wenn am Anfang der Dreißiger Jahre schon alle wirklichen Oppositionelle – Bürgerliche, Menschewiki, Sozialrevolutionäre oder Anarchisten – bereits ausgeschaltet sind, ist der innere Feind unbesiegt. Er ist sogar noch viel gefährlicher geworden, denn nun – so Stalins Mutmaßung – verbreitet er seinen Ungeist in Gestalt höchster Parteikader. Kamenjew und Sinowjew, Bucharin, Radek und Rykow, die ehemaligen Führer der innerparteilichen Opposition schreiben zwar ständig Elogen auf den großen Stalin, aber muss man das nicht als Ausdruck besonderer Perfidie verstehen? Und Kirow, der viel geliebte Parteiführer aus Leningrad, der es als einziger noch wagt, Stalin zu widersprechen – ist das nicht der kommende Parteiführer im Wartestand?
Es sind diese paranoiden Ängste des Generalsekretärs, die das Schwungrad der innerparteilichen Feme in Gang setzen. Zunächst nur kursorisch, unverbunden, ungeplant, durchsetzen Verdächtigungen, Denunziationen und Attacken den Staats- und Parteiapparat und spülen schon 1933 Tausende von Unschuldigen in die sibirische Verbannung – so auch den aufrechten Parteiaktivisten Sascha, der im Zuge einer Hochschulintrige für drei Jahre nach Sibirien verbannt wird. Was später Millionen Menschen in viel schrecklicheren Formen zustoßen sollte, wird an seinem Beispiel vorgeführt: diffuse Verdächtigungen, lächerliche Wortverdrehungen, nächtliche Verhaftungen und Verhöre, fingierte Schuldeingeständnisse und eine willkürliche Verurteilung zerstören einen Lebensentwurf für immer.
Im zweiten Teil des Buches befindet sich Sascha mit einem halben Dutzend Mitverbannter auf dem langen Weg nach Sibirien, wo er drei Jahre lang an der Angara leben und büßen soll. Für die Bauern, die die Verbannten auf ihrem Weg nach Osten verpflegen müssen, gehören diese Menschengruppen zum festen Traditionsbestand der Jahrhunderte – nur dass die Zahl der Unglücklichen unter der Herrschaft des Volkes merkwürdigerweise geradezu explodiert. In Moskau beginnt Jurij Scharok, der opportunistische Typ des reinen Karrieristen, derweil eine Liaison mit der schönen Lena und wird als neu kooptiertes Mitglied des NKWD ein Teil des Unterdrückungsapparates. Die kleine Warja, die gerade erst ihre Schule abgeschlossen hat, kommt in Kontakt zu einem Kreis Moskauer Restaurantnutten, einer Gruppe junger Frauen, die in den besten Lokalen der Hauptstadt sich von Ausländern aushalten und beschlafen lassen und sie dafür im Dienst des NKWD bespitzeln. Mit dem schillernden Kostija, einer schrägen Halbexistenz, der seinen Lebensunterhalt als Billardspieler verdient, reist sie auf die Krim, ehe sie seine Geliebte wird und mit ihm zusammen in das verwaiste Zimmer des verbannten Sascha zu Muter Pankratow zieht.
Derweil verkündet der „Parteitag des Sieges“ den Anbruch einer neuen Zeit, die Hochöfen von Magnitogorsk werden angeblasen, die U Bahn von Moskau entsteht, lauter Projekte, die einer aufstiegsorientierten Jugend beste Karrierechancen eröffnen. Auch der inzwischen in Ostsibirien eingetroffene Sascha glaubt noch immer an diese gute neue Zeit, träumt in der Verbannung von seiner Heimkehr, muss sich aber gleichzeitig mit heimtückischen Bauernlümmeln und unfähigen Kolchosleitern auseinandersetzen. Allerdings gibt es auch einen Priester, der ihm, dem bekennenden Kommunisten, die Füße wäscht, eine tatarische Lehrerin, mit der er eine kleine Liebe durchlebt und den Mitgefangenen Boris, der vor lauter Sehnsucht in die eisige Taiga flüchtet und umkommt – doch erstaunlicherweise haben die meisten dieser mitmenschlicheren Figuren mit dem Kommunismus überhaupt nichts am Hut.
So fließt die Handlung dieses großen Roman über Hunderte von Seiten dahin, ohne jemals langweilig zu werden. Moskau, Sibirien, das Politbüro, die Handlungen und Schauplätze wechseln in bunter Folge, ohne dass jemals der Eindruck der Beliebigkeit entstünde – im Gegenteil: wie im Vorfeld einer großen Katastrophe wird die Stimmung dichter, je weiter die Handlung voranschreitet. Auf Stalins Geheiß wird unter der Führung von Jagoda und Jeshow, den großen Schlächtern der Dreißiger Jahre, ein landesweiter Gewaltapparat gegen Volk und Partei in Stellung gebracht, und als der Leningrader Parteisekretär Kirow sich diesen Tendenzen in den Weg stellt, wird er am 1. Dezember 1934 ermordet. Erst mit gehöriger Verspätung erfahren die Verbannten in Sibirien von diesem Mord und wissen sofort. „Wer immer dies getan hat…es brechen finstere Zeiten an.“(S. 760)
Mit dieser Sentenz endet der Roman ohne happy-end oder ein sinnvolles Handlungsende. Man erfährt nicht, was aus der kleinen Warja geworden ist, ob Sascha aus der Verbannung zurückkehren kann, was aus der Mutter werden wird oder ob der mächtige Onkel stürzt – genaugenommen braucht man es auch nicht, weil der nun einsetzende Große Terror mit dem anschließenden Weltkrieg ein ganzes Volk in den Abgrund reißen wird.
Soweit in aller Kürze die Handlung des vorliegenden Buches. Was aber ist daran das Bemerkenswerte? Zunächst handelt es sich trotz seines offenen Endes um einen großen epischen Wurf von seltener Geschlossenheit. Die inneren Monologe, mit denen die Figuren von Sascha Pankratow bis Stalin ihre Motive entfalten, die Handlungsführung, aber auch die zugleich anschaulich wie reflektierte Sprache erheben dieses Werk zu einem der großen Romane des 20. Jhdts. Das Buch ist außerdem ein Fundort unzähliger psychologischer und sprachlicher Miniaturen, wie man sie so noch nicht gelesen hat – etwa das Portrait des durchschnittlichen Tschekisten (S. 216), die sogenannte präventive Barmherzigkeit des Terrors (S. 299), der Vergleich der zaristischen und bolschewistischen Justiz (S. 366), der Kurzabriss der Kollektivierung in Sibirien (S. 498-500) oder die Betrachtung über die kuriosen Strafexzesse für kleinste Materialschäden als funktionales Äquivalent für die fehlende Sorgfalt des Eigentümers im Sozialismus. Rybakow bietet sogar, was bisher nur Solschenizyn im ERSTEN KREIS DER HÖLLE geglückt ist, eine glaubhafte psychologische Introspektion in die Innenwelt Stalins und ihren sinnvollen Einbau eine Romankonstruktion. Dabei gelingen Rybakow meisterhafte Passagen, in denen der Leser aus der Innenwelt eines Monsters auf die Weltgeschichte schaut (S. 384ff.), aber auch Szenen voll schwarzen Humors, in denen sich Stalin einer Zahnbehandlung unterziehen muss ( etwa S. S. 633, S, 700ff.) oder in denen er eine Geschichtsstunde mit Kirow und Schdanow abhält ( S. 714). Wenn man überhaupt eine Kritik an diesem großen Werk äußern könnte, dann ist es vielleicht die Hartnäckigkeit, mit der der Autor, selbst ein Sozialist, an den scheinbar „guten“ Figuren der Bewegung festhält – etwa dem Hoffnungsträger Kirow, der aber als zweiter Mann eines totalitären Staates niemals eine solche Stellung hätte erreichen können, ohne nicht selbst auch ein Mörder zu sein.
Alles in allem, also kein Wunder, das dieses Werk über das letzte Jahr vor dem Großen Terror, geschrieben zwischen 1966-83 in der Sowjetunion, erst in den allerletzten Jahren der Gorbatschow- Ära erscheinen konnte. Im Westen aber war ihm in den Neunziger Jahren nur ein kurzfristiger Erfolg beschieden, denn die kulturdominante linksliberale Öffentlichkeit war an der vollen Wahrheit über Sozialismus und Kommunismus nicht wirklich interessiert. Eine Schande auch, dass dieses große Werk, da inzwischen vergriffen, in Deutschland nicht wieder aufgelegt wurde.