Was ist ein gutes Buch? Diese Frage stelle ich mir, seitdem ich lese, und bei jedem herausragenden Buch gebe ich mir eine andere Antwort. Aber eines ist sicher: gute Bücher sind selten. Sie stehen unscheinbar in den Bibliotheken neben einem Übermaß an literarischem Schrott und von außen betrachtet kann man ihre Besonderheit nicht erkennen. Man muss sie schon lesen.
Das habe ich getan und war von den ersten Seiten an begeistert. Begeistert von einem Buch, das heute so aktuell ist wie in den Dreißiger Jahren, in den es spielt, weil es nicht nur die Frage nach der Freiheit und der Mündigkeit stellt, sondern sie auch beantwortet. Im Mittelpunkt der Handlung steht der junge Intellektuelle Pietro Scali, der sich als kommunistischer Aktivist vor dem faschistischen Regime verstecken muss. Scali ist eine Figur wie viele, die in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts ihre Energien an den menschenverachtenden Kommunismus verschwenden, der keinen Deut besser, eher schlechter ist, als das, was er bekämpft. Er ist ein Idealist, den die Not der konkreten Menschen sieht und der lieber untergehen als sich an den totalitären Faschismus anpassen will. Silones wunderbare poetische Idee versetzt den flüchtigen Sozialisten Pietro Scali als vermeintlichen Priester in das Abruzzendorf Petrasecca, wo er sich auskurieren, in Wahrheit aber nur vor der Obrigkeit verstecken soll. Hier kommt er dem Leben der einfachen Menschen ganz nahe, den verarmten Adeligen, denen ein Bankzusammenbruch die letzten Ersparnisse raubt, der Wirtin und der Kräuterhexe, den einfachen Bauern, die weder lesen noch schreiben können und trotzdem sehr genau wissen, wer sie ausbeutet. Schon allein die Bestandsaufnahme dieser italienischen Provinz ist die Lektüre des Buches wert. Und witzig ist es außerdem. Wie die regimetreue Lehrerin den Bauern die Jubelmeldungen aus den Zeitungen vorliest und diese darüber spotten, ist nicht nur köstlich sondern als Satire zeitlos. Oder: „Eine alte Frau rutschte auf den Knien zum Hochaltar. Dabei berührte sie mit der Zunge den Boden und hinterließ auf den Steinen einen unregelmäßigen Streifen von Speichel, ähnlich der silbrigen Spur einer Schnecke“ (S. 251) Pietro Scali, selbst ein Sohn der Berge erwirbt als vermeintlicher Priester mit seinen unkonventionellen Anzischten schnell die Achtung der kleinen Leute, die Frauen vergöttern als Heiligen und aus allen Gegenden kommen die Notleidenden, um bei ihm zu beichten. Aber die gleichen Leute jubeln auch, als der faschistische Staat einen Aggressionskrieg gegen ein wehrloses afrikanisches Königreich ausruft, sie betrügen wo sie können und hängen ihr Mäntelchen nach jedem Wind, der gerade bläst. Scali aber lässt sich nicht entmutigen, selbst nicht durch seine eigene Partei, die in diesen Jahren mit nichts anderem beschäftigt ist als mit den innerrussischen Säuberungen, auch nicht durch Renegaten wie den ehemaligen Parteigenossen Uliva, der voraussagt, dass der Kommunismus am Ende keinen Deut besser sein wird als der Faschismus. Der einzige, der ihn versteht, ist sein ehemaliger Lehrer Don Benedetto, der Scalias Engagement als Gottesdienst im Auftrag der Armen begreift. Am Ende verschwindet er aus Pietrasecca, ohne dass der Leser wüsste, was aus ihm werden wird. Scalis Sozialismus ist eine Art Gottsuche unter einem anderen Namen, und sein persönlicher Adel besteht darin, dass er nicht nur Ideologien oder Machtfantasien folgt, sondern sich, wie ein wirklicher Priester, mit den Nöten und dem Elend des Einzelnen beschäftigt. t.
Insofern ist Silones Buch auch ein zutiefst religiöses Buch, auch wenn die offizielle Kirche dabei ihr Fett weg bekommt. Am Ende eines langen Weges, enttäuscht von dem kommunistischen Terror, den Silone selbst in Russland miterleben musste, entsetzt vom Faschismus bleibt nur der aufrechte Kampf des Einzelnen um Integrität und Freiheit. Silones berühmtestes Diktum: „Der neue Faschismus wird nicht kommen und sagen: ich bin der neue Faschismus, sondern er wird kommen und sagen: Ich bin der Antifaschismus“ wird in dem Buch direkt nicht erwähnt, kennzeichnet aber zutiefst die skeptisch-humanistische Weltsicht, aus der heraus dieser große Roman geschrieben wurde. All das ist schon fast zu viel für einen Roman – dass er auch noch in einer poetischen Sprache geschrieben wurde, von der man nicht genug bekommen kann, ist ein zusätzliches Geschenk. „Aus der Ferne erklangen verloren Stimmen, Hundegebell, hin und wieder der Ruf eines Hirten, gedämpftes Blöken der Schafe. Von der feuchten Erde stieg ein leichter Duft auf, es roch nach wildem Rosmarin und Thymian. Der Mensch war dem Tier nah, der Bach der Pflanze der Erde. Der Bach im Tal funkelte von unzähligen Sternen. Pietrasecca war in Dunkelheit versunken, nur die großen, gewundenen Hörner am Dach des Wirtshauses hoben sich gegen den Himmel ab.“