Ich habe dieses Buch von einer Frau erhalten, die ich wegen ihres aufrechten Wesens liebe und bewundere. Lies dieses Buch, sagte sie, es wird Dich die Welt neu sehen lehren.
Nun habe ich das Buch gelesen, und ich will gerne zugeben, dass es mir einen Teil der Wirklichkeit neu erschlossen hat.
Singers Buch handelt von Joseph Shapiro, einem polnischen Juden, der nach den Wirren des Weltkrieges in die USA emigrierte und dort zu einem reichen Mann geworden ist. Aber er lebt in Sünde und Verlorenheit „Wenn jemand eine Menge Geld verdient und keinen Glauben hat, dann beschäftigt ihn schließlich nur noch ein Gedanke: Wie er dem Leben möglichst viel Genuss abgewinnen kann.“ (S. 20). So geht es auch Shapiro, der sich neben seiner Frau, die er eigentlich liebt, bald noch eine Geliebte zulegt, eine widerliche Schlampe, die ihn wie eine Weihnachtsgans ausnimmt und auch noch betrügt. Als er sie verlässt und reumütig (aber zur Unzeit) zu seiner Frau heimkehren will. muss er feststellen, dass auch sie ihn betrügt. Kein Wunder, dass Shapiro in eine Existenzkrise gerät. Er erkennt nicht nur, dass die Lüge sein Leben überwältigt hat sondern dass die ganze Gesellschaft, alle Beziehungen in der Öffentlichkeit und der Politik von Neid, Habgier und Falschheit durchdrungen sind (sehr eindringlich und überzeugend geschildert S. 36). Angeekelt von seinem bisherigen Leben verlässt der Protagonist die Vereinigten Staaten, um in Israel einen neuen Halt im Glauben der Väter zu finden. Doch schon im Flugzeug sitzt plötzlich die schöne Priscilla neben ihm, mit der in der Nacht unter der Decke herum fummelt. Tugendhaft bei allen Gelegenheiten zu leben, ist offenbar doch nicht so einfach, lernt der Konvertit – und zieht eine radikale Konsequenz. Er sucht Schutz bei den Riten der Chassidim, lässt sich Schläfenlocken wachsen, dazu einen Bart und zieht nach Mea Shearim, jenem Viertel Jerusalems, in dem die traditionellen Juden leben, als befänden sie sich noch in den osteuropäischen Schtetls. Hier lernt er nur tugendhafte Menschen kennen und heiratet nach seiner Scheidung die gläubige Sara und verbringt den Rest seiner Tage mit der Lektüre der heiligen Schriften. Allerdings: „Noch lange, nachdem ich ein Jude mit Bart und Schläfenlocken geworden war, fehlte mir der Glaube. Doch allmählich wuchs er in mir. Das Handeln kommt immer zuerst. Lange bevor das Kind weiß, dass es einen Magen hat, nimmt es Nahrung zu sich. Lange bevor man zum absoluten Glauben gelangt, muss man jüdisch handeln. Jüdischsein führt zum Glauben.“(S.. 146f.)
So findet Joseph Shapiro am Ende seinen Frieden abgeschottet von der Welt. Dass seiner Frau ebenso wie ihm die Zähne ausfallen, macht nichts, denn sie wollen niemandem mehr gefallen. Der Ritualismus des traditionellen Judentums beschützt ihn vor der Sündigkeit der Welt, die längst auch in Israel Platz gegriffen hat.
Das ist im Wesentlichen der Plot des vorliegenden Werkes. Auf en ersten Blick könnte man das Buch also als ein Plaidoyer für die religiöse Weltflucht missverstehen, denn die libertäre Gegenwart, so wie sie Singers Protagonist Shapiro beschreibt, ist wirklich zum Weglaufen. „Wenn ein Mann mit einer modernen Frau schläft, liegt er in Wahrheit mit all ihren Liebhabern im Bett. Deshalb gibt es heutzutage so viele Homosexuelle“(S. 147), sinniert Shapiro. Und in Anbetracht der linksradikal-enthemmten Jugend gilt:“Während sie die Welt besudelten, lernen sie alles darüber, wie man die Welt retten kann.“(S. 24) . Geradezu lachhaft findet Shapiro, dass die Tiraden von Freud, Sartre und all den anderen Zeitgeistgenies dem Menschen angemessener sein sollen als die Offenbarungen der Religion. Selten habe ich eine mit so kalter und entschiedener Distanz verfasste Totalkritik der permissiven Gesellschaft unserer Tage gelesen.
Irgendwann aber ist der Punkt erreicht, an dem Leser merkt, dass er Singer, diesem großen Erzähler, auf den Leim gegangen ist. Denn Shapiros Umkehr als Büßer geschieht ja nicht aus der Kraft einer selbstbewussten religiösen Ethik, die sich den Herausforderungen der Sünde stellt, sondern seine Umkehr gleicht einer anthropologischen Verkrüppeljung. Er gibt seine Freiheit und damit seine sittliche Dignität auf, um in die Enge religiöser Riten zu flüchten, in denen die Wirklichkeit nicht mehr vorkommt ( und stattdessen darüber debattiert wird, ob man ein Ei essen darf, dass ein Huhn am Sabbat gelegt hat).Der Büßer mag in seinem neuen Leben weniger Zähne besitzen und weniger Sünden begehen, aber er kann kein sittliches Vorbild, sein. Er ist ein Fundamentalist, der sein abgeschottetes Leben nur führen kann, weil sich Millionen Andere auf das wirkliche Leben einlassen. Von diesem Charakter, der im Buch immerhin als entscheiden gewaltfrei beschrieben wird, ist es dann allerdings nur noch ein kleiner Schritt zur Bombe, mit der fundamentalistische Terroristen aller Richtungen die Welt, die sie so ablehnen, dann auch zerstören wollen. Insofern glaube ich im Unterschied zu meinem verehrten Vorrezensenten, dass Isaac B. Singer ein Buch gegen religiöse Weltflucht und Bigotterie geschrieben hat. Und wers nicht glaubt, der lese den dem Buch angefügten Kommentar des Autors.