Vorneweg und ehrlich gesagt: Die fünfziger Jahre haben eine schlechte Presse. Unseren heutigen Meinungsathleten gelten sie als finstere Vor-Zeit der glorreichen 68er Umbrüche, als die Epoche, in der die CDU absolute Mehrheiten gewann, in der sich die alten Nazis noch verstecken konnten und in der der Kuppeleiparagraph die Liebespaare ängstige, die sich in der elterlichen Wohnung trafen. Aber es war auch die Zeit, in der es keine Massenkriminalität gab, keine Massenscheidungen, keine überbordenden Staatsschulden, keinen islamistischen Terror und keine s*** storms gegen jeden, der von der politischen Korrektness abwich. Nur langsam beginnt sich bei einigen die Einsicht durchzusetzen, dass diese Zeit wohl anders war, aber bestimmt nicht schlechter als das, was wir gegenwärtig erleben.
In diese Andersartigkeit der Fünfziger Jahre zurück führt das vorliegende Buch, in dem sich Botho Strauß, der am 2. Dezember 2014 siebzig Jahre alt wird, seiner „Herkunft“ versichert. Für den etwas älteren Leser, der noch eigene Erinnerungen die Fünfziger Jahre besitzt, ist die Wiederbegegnung mit dieser Zeit ein berührendes Erlebnis, ein Wiedersehen mit so vielen Details, die nur noch als Gesten und Gefühle und nicht mehr als Worte gegenwärtig waren und die man nun wiedererkennt. Soweit der erste Eindruck.
Wer diese Ebene der rein emotionalen Wiederbegegnung verlässt und sich dem Buch etwas analytischer zuwendet, wird mehrere Schwerpunkte erkennen, die einander ergänzen und durchdringen. Da ist zuerst und vor allem der Vater, Eduard Strauß, ein „Ibsen Mann“, ein nicht sonderlich herausragender, wenig erfolgreicher, korrekter, leicht misanthropischer und kultivierter Mensch, der seinen Sohn „in Liebe würgend“ (S.17) erzog. Ihm widmet der alt gewordene Sohn und Autor rückblickend geradezu hymnische Zeilen: „Du einzige Quelle meiner Erinnerung! Nie hätte ich mich irgendeines Geschehens erinnert ohne deine Schule der Erinnerung. Alles, was war, wurde überhaupt Gewesenes durch dich.“ (S.15). Nicht, dass es nicht auch die üblichen Generationenkonflikte zwischen Vater und Sohn gegeben hätte, doch am Ende, als der Vater hinfälliger und älter wurde, erkennt der Autor mit Erstaunen, wie sehr er sich selbst in einen Wiedergänger des Vaters und seiner Werte verwandelt hat. Auf der Suche nach der eigenen Herkunft tat sich für den Autor plötzlich „auf einmal unter dem klapprigen zugigen Verschlag einer deutschen Nachkriegsherkunft ein festerer Boden auf, als man ihn bei späteren geistigen Ladnahmen je unter die Füße bekam.“(S.13)
Was waren diese scheinbar überholten Werte, Traditionen, Eindrücke und Gebräuche, die eine so unerwartet prägende Kraft entfalteten? Die Beantwortung dieser Frage bildet den zweiten Schwerpunkt des Buches. Selten ist eine unspektakuläre Jugend in einer deutschen Kleinstadt mit mehr Liebe und Poesie beschrieben worden wie das Aufwachsen des kleinen Botho im ehemaligen kaiserlichen Kurbad Bad Ems. Die Schule, die Brunnenhalle, die Lehrer, das Spielen auf der Straße, der Spazierweg des Vaters – nichts an dem, was geschah, war sensationell, doch alles war existentiell, es war der Anker für den Planetenlauf der Erinnerung. „Herkunftsnähe, Herkunftsferne. Nie wird er Umlauf verlassen.“ (S. 42) Am Ende des Buches wird diese unauflösbare Bindung an den Ort der Herkunft noch klarer formuliert: „O noch einmal durch diese Klapptür laufen und mit den italienischen Kindern spielen! Diana zum künstlerischen Küssen in den stillgelegten Aufzug locken! Aber wir durften nicht zu laut sein, sonst schimpfte meine Mutter aus dem Küchenfenster im dritten Stock in den Hof herunter. Im Winter war er öd und verwaist. Die Mülltonnen halb leer – ohne die großen Mengen Verpackungen und ohne die vielen Fruchtrückstände des Eissalons. Die Italiener waren im späten Oktober nach Hause gefahren in die Dolomiten, sie wohnten in der Nähe von Cortina. Erst im April kamen sie zurück – und dann der neue Sommer!“(S.86)
Die Reminiszenzen an Vater und Heimatort verbinden sich schließlich zur Frage nach dem Wesen der Erinnerung. Erinnerung hat für Botho Strauß nicht nur etwas mit Vergangenheit zu tun, sie ist ein ganzheitliches menschliches Vermögen, „eine Variable der Sehnsucht, so dass Fernweh und Heimweh, Erwartung und Erinnerung in ein und demselben Enzym des Unerreichlichen symmetrisch angeordnet sind.“(S.35) An einer anderen Stelle wird die Erinnerung als schöpferische und aktive Kraft beschrieben, als die Produzentin „einer künstlich synthetisierten Damals-Welt. Zur Herstellung von wertvoller Sentimentalität, die er als günstiges Rauschmittel schätzt.“(S.55). Insofern ermöglicht Erinnerung eine Immunisierung, um dem „Karneval“ des Lebens „mit allen Kräften des Nachlebens zu widerstehen“(S.92) Und – wenn die Begabung vorliegt –in Gestalt der Kunst, namentlich des Romans, der Erinnerung eine bleibende exemplarische Gestalt zu geben.
Ein ergreifendes Buch, von dem der Leser das Gefühl hat, dass es – wie alle gute Dichtung – direkt zu ihm spricht. So mag ein jeder diese Gedanken des alternden Botho Strauß auf dem Hintergrund seiner Herkunft und seiner Erinnerungen aufnehmen und bedenken. Die Tiefe und der Resonanzraum, den das Buch vorgibt, machen allerdings ein wenig beklommen. Auch ein Weiterdenken in gesellschaftlicher Hinsicht liegt nahe, ergibt aber einen wenig erbaulichen Befund. Denn der Zusammenbruch der modernen Familie und die Degradierung vieler Väter zu geschiedenen Teilzeit-Daddys lassen solche Geschichten wie die vorliegende immer unwahrscheinlicher werden.
Nachtrag zur kompakten Gestaltung des Buches: Es hat die Form und das Gewicht jener kleinen Brotbretter, auf denen unsere Mütter in den Fünfziger Jahren die Stullen schnitten. Kann das ein Zufall sein? Die germanistische Forschung wird es herausfinden