Mit Alaska verbinden sich nach den landläufigen literarischen Vorstellungen Grandiosität, Gefahr und Abenteuer – lauter Ingredienzien eines Heldenromans, in sich dem der Einzelne im Angesicht einer feindlichen Natur zu behaupten weiß. Dass dies ganz und gar nicht der Regel entspricht, weiß man spätestens seit Krakauers In die Wildnis“ und seiner trauriger Mär vom Vaganten Alexander Supertramp, der in den Weiten des Nordens elend zugrunde geht. David Vann hat in dem vorliegenden Buch dieses Thema noch einmal etwas anders instrumentiert: Alaska als Schauplatz und Chiffre einer unermesslichen Verlorenheit, in der die Leere, die die Menschen in sich tragen, nur umso lauter widerhallt. „Wer sonst nirgendwo hinpasste, kam hierher, und wer sich nirgendwo festhalten konnte, fiel einfach über den Rand. Winzige Ortschaften in einer großen Weite. Enklaven der Verzweiflung“, sinniert ein Protagonist an einer Stelle des Buches über Alaska. Damit ist das Bühnenbild des vorliegenden Romans beschrieben.
Gary und Irene, die Hauptpersonen des Buches, hat es nicht aus freiem Entschluss nach Alaska getrieben. Für den jungen Gary, der von dem Studium altenglischer Handschriften die Nase voll hatte, war es eine Flucht in eine romantisierte Unendlichkeit, für die islandstämmige Irene einfach nur die Gefolgschaft, die sie ihrem Mann zu schulden glaubte. Die Ehe der beiden am Ende der Welt funktionierte über die Jahrzehnte hinweg mehr schlecht als recht, am Ende sogar immer schlechter. Gary, der den Herausforderungen Alaskas überhaupt nicht gewachsen ist, macht seine Frau für das Scheitern all seiner halbgaren Lebensträume verantwortlich – und Irene, die mütterlicherseits ein furchtbares Trauma mit sich schleppt, wird zwischen den Mahlsteinen von ehelicher Anpassung und Selbstverleugnung zerrieben. Garys Idee vom Bau einer Blockhütte auf Caribou Island vor der Küste von Kenai, mit dem das Buch beginnt, entpuppt sich bald als eine neue der vielen sackgassenartigen Obessionen, mit der der bockige und unduldsame Ehemann seine Ehefrau zu quälen weiß. Die schrecklichen Kopfschmerzen, an denen Irene gleich nach dem Beginn der Bauarbeiten erkrankt, wirken zunächst wie eine psychosomatische Opposition gegen den verrückten Plan des Ehemannes – dann entpuppen sie sich, je weiter die Handlung fortschreitet, immer klarer nicht als ein organisches Leiden sondern als das Schmerz gewordene Unbehagen an einem fehlgeleiteten Leben.
Der Tochter Rhoda und dem Sohn Mark, die gleich in der Nachbarschaft am Cook Inlet mit ihren Partnern leben, steht dieses fehlgeleitete Leben noch bevor – auch wenn ein jeder das nur Menschenmögliche versucht, diesem Verhängnis zu entkommen: Rhoda in ihrer Beziehung zum kaltherzigen Zahnarzt Jim und Mark in seiner selbstbezogenen Lachsfischpassion. In diesem Ensemble erfüllen Monique und Carl als junge Durchreisende nur eine katalysatorische Funktion – die eine als gewissenlose Luxusschlampe, der andere als Weichling, das weder für die Liebe noch für Alaska taugt.
Die Interaktion dieser Figuren, ihre Erinnerungen und Intentionen und die Kulisse eines sich langsam rauh und herbstlich eintrübenden Alaska bilden die Elemente, aus denen David Vann einen packenden Roman geschaffen hat, der zuerst kaum merklich, dann immer unausweichlicher auf die finale Katastrophe zusteuert. Zuerst wusst ich gar nicht, warum mich dieses Buch so fesselte – war es die analytisch und unverkennbar herausgearbeitete Psychologie der einzelnen Figuren, war es die leitmotivisch beschriebene langsam einsetzende Verdunkelung der Natur, die wie ein beständiger literarischer Kontrapunkt die Handlung begleitet, oder war es die eindringliche Sprache, in der der Roman genau in der Mitte zwischen Präzision und Poesie erzählt wird?
Möglich, dass ein jeder in dem vorliegenden Werk einen anderen Vorzug entdecken wird – packen und bewegen wird das Buch den Leser auf jeden Fall. Ich habe den zweiten Teil des Werkes in einem einzigen Rutsch zu Ende gelesen (lesen müssen), und das Buch nach 349 Seiten fast erschöpft zur Seite gelegt. Eine literarische Parabel auf das Verhängnis vergeudeten Lebens, aber auch ein Weckruf für diejenigen, die sich nicht in die Tasche lügen wollen. Es hat ohnehin keinen Zweck. Unbedingt empfehlenswert.