Schirrmacher: Minimum

Schirrmacher MnimumIm Herbst 1846 brechen etwa achtzig überwiegend deutschstämmige Siedler – Alleinreisende, Familien, Frauen, Kinder und alte Menschen – auf, um auf dem Weg nach Kalifornien die Sierra Nevada zu überqueren. Im Oktober bleibt der Trekk im am Donner-Pass im Schnee stecken, und ein schrecklicher Überlebenskampf beginnt, dem mehr als die Hälfte der Reisenden zum Opfer fallen. Durch das Zündeln zweier Kinder entsteht im Hotelkomplex Summerland auf der Isle of Man im August 1973 ein Großbrand, der dreitausend Menschen in Todesgefahr bringt, von denen 51 verbrennen. Als im August 1995 im Zuge einer noch nie dagewesenen Hitzewelle in Chicago die Energie und Wasserversorgung zusammenbricht, sterben siebenhundert Menschen im Großraum der Stadt an Hitzschlag, Verdursten oder Herzanfällen.
Was ist die überraschende soziale Gemeinsamkeit dieser drei Katastrophen? Nicht die Stärksten, nicht die Einzelgänger, nicht die jungen Männer besaßen die größte Überlebenschance sondern die Angehörigen der Familien! Die alleinreisenden Kraftpakete starben am Donnerpass wie die Fliegen, die Alten und Kranken überlebten dagegen im Netzwerk der Familie Obwohl 1973 im Summerland-Komplex die Kinder zum Teil unbeaufsichtigt und weit verstreut spielten, gab es kaum Opfer unter ihnen, weil die Familien vor der Flucht aus dem Hotel eine koordinierte Suche nach ihren Angehörigen durchführten, ein Verhalten, dass von einem höheren Überlebenserfolg gekrönt war, als die panische Flucht der Einzelgänger. Und im Chicago des Jahres 1995 befanden sich unter den allein stehenden wohlhabenden weißen Männern ohne Familienanbindung die meisten Opfer, in den viel ärmeren Latino Vierteln mit ihren lebendigen familiären Netzwerken gab es nur eine unterdurchschnittliche Zahl von Todesfällen.
Der Ausgangspunkt von konkreten Ereignissen ist eine der Stärken des vorliegenden Buches – allerdings dienen diese und andere erzählerische Passagen nicht nur der Unterhaltung des Lesers sondern auch der Begründung eines zentralen Befundes, der durchaus als Vertiefung des „Methusalem-Komplotts“ gelesen werden kann. Schirrmachers These lautet: Familien besitzen einen bislang noch nicht hinreichend gewürdigten Überlebenswert, der sich immer und überall, vor allem aber dann erweist, wenn sich das soziale Leben in Krieg oder Katastrophe dem „Minimum“ nähert. Wieso das? Weil die Familie über eine soziale Ressource verfügt, die kein Vertrag und keine Freundschaft ersetzen kann: sie besitzt Altruismus, das heißt die Fähigkeit, zu geben ohne Gegenleistungen zu erwarten, und zu empfangen ohne zurückgeben zu müssen, was die Überlebenswahrscheinlichkeit jedes einzelnen Familienmitgliedes nachweisbar steigert. Man mag krank oder alt sein – in einem familiären Netzwerk von optimalerweise zehn Personen sind die Überlebensaussichten in einer Krise um ein Vielfaches höher als die eines allein stehenden, gesunden jungen Mannes. Schade nur, dass in der modernen westlichen Gesellschaft mit der Familie als normaler Lebensform auch der Altruismus im Niedergang begriffen ist. Die Gemeinschaft ist dabei mit der Familie auch ihren „sozialen Kitt“ zu verlieren und sich in eine Ansammlung von parasitären „Schwarzfahrern“ zu verwandeln, die in der Krise keine Chance mehr haben werden, weil sich der Sozialstaat demnächst mangels Masse und Kasse verabschieden wird. Das ist, aller Kürze, die „Message“ von Frank Schirrmachers neuem Sozialschocker, und auch wenn man nicht sagen kann, dass irgendetwas von dem, was er schreibt, sonderlich neu wäre, ergibt die Gesamtschau all der disparaten Elemente und Befunde, die Schirrmacher aus den verschiedensten Wissenschaften zusammenträgt, ein Bild von erschreckender Eindringlichkeit Meisterhaft die Passagen, in denen Schirrmacher an die Denunziationen der Familie als Hort der Knechtung und Kränkung erinnert, mit denen uns die so genannten emanzipativen Wissenschaften in den Siebziger und Achtziger Jahren das Hirn vernebelt hatten, bedrückend, seine Skizze einer Welt ohne Geschwister, in der die Fernsehsoaps zum virtuellen Surrogat der Familie werden. Traditionelle Mehrkinderfamilien wird es in absehbarer Zukunft in den deutschen Großstädten nur noch im Migrantenmilieu geben, während die deutschstämmigen Monaden so lange mit den verschiedensten Lebensformen experimentieren werden, bis es zu spät sein wird ( Ulrich Beck lässt grüßen!). Wie im „Methusalem Komplott“ begnügt sich Schirrmacher allerdings nicht nur damit, die sich anbahnende Katastrophe zu beschreiben. Er will auch Hoffnung machen und verweist auf die Möglichkeiten einer Revitalisierung der Gemeinschaft durch die sozialen und biologischen Ressourcen der Frauen und Großmütter, jener Varianten unserer Spezies, die qua Evolution belastbarer, altruistischer, kommunikativer und gerade in der Krise allzeit kompetenter sind als ihre männlichen Partner. Das klingt etwas kurios und fabulativ, kann den absolut erstklassigen Gesamteindruck des Buches aber nicht wirklich schmälern. In seiner Prägnanz und Dichte ein Schlüsselwerk zum Verständnis der Gegenwart, das man jedem der immer seltener werdenden Jugendlichen in den Schulranzen legen möchte.

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