Das vorliegende Buch „Koala“ hat mich von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen. Die Sprache besitzt eine merkwürdig suggestive Kraft, gerade so, als flüstere der Autor dem Leser seine Erzählung ins Ohr. Und die Erzählung, namentlich das erste Kapitel, fesselt durch ihre Kombination aus intimer Lebensnähe und unaufdringlicher Symbolik. Ihr Thema ist der Selbstmord des Bruders und die Veränderung, die dieser Selbstmord im Erzähler verursacht.
Die Handlung des Romas beginnt, damit, dass der Autor seinen Halbbruder trifft, mit dem er seit Jahren schon keinen engeren Kontakt mehr unterhält. Dieser Bruder, der auf den Spitznamen „Koala“ hört, ist ein unauffälliger, unambitionierter, störrischer Jedermann, mit dem der Erzähler noch nie wirklich etwas anzufangen wusste. Einige Monate später erfährt der Erzähler vom sorgfältig geplanten und undramatisch in Szene gesetzten Freitod eben dieses Bruders. Das überrascht den Erzähler und er sinniert: „Er hatte sein Leben nicht hingeworfen, er hatte es abgelegt, zurückgegeben wie den Schlüssel einer Wohnung, aus der man zieht, mit nostalgischen Erinnerungen an die darin verbrachten Jahre vielleicht, doch gleichzeitig bewusst, wie überflüssig diese Schlüssel geworden sind.” Und weiter: „Ich begann zu glauben, die längste Zeit einen Toten zum Bruder gehabt zu haben, oder wenigstens einen Untoten, einen Mann, der mehr schlecht als recht seine Fäulnis versteckt hatte.” Die sporadischen Recherchen und Überlegungen des Erzählers konzentrieren sich bald auf „Koala“, den Spitznamen, der ihm zu einer Art Chiffre für die soziale Existenz des Bruders wird. Wie ein Koala Bär, der in Australien die längste Zeit des Tages faul in den Bäumen hängt und kaum etwas tut, war auch das Leben des Bruders verdämmert.
Im zweiten Teil des Buches kommt es zu einer kompletten Veränderung des literarischen Bühnenbildes. Plötzlich hat der Leser eine Geschichte Australiens vor sich, die mit der First Fleet und der Landung der Kolonisten in der Botany Bay beginnt, um sich dann ausgiebig mit dem Koala Bären zu beschäftigen. Auch wenn dieser Genrebruch befremdet – das Kapitel ist kenntnisreich und flüssig geschrieben und vermittelt solidere Grundkenntnisse in australischer Geschichte als mancher Reiseführer. Spätestens, als Bärfuss auf den Koala bar zu sprechen kommt, auf seine halbgiftige Ernährung, seine drohende Ausrottung und seine träge Existenz, denkt der Leser: Hoppla, Koala war doch der Spitzname des Bruders, der sich im ersten Teil umbrachte. Was hat das zu bedeuten? Diese Frage bleibt leider ungeklärt, denn der Autor macht sich nicht die Mühe, irgendwelche Bezüge zwischen Bruder und Koala jenseits auf der Hand liegender Plattitüden (Trägheit, Bedrohung, Vereinsamung) herauszuarbeiten.
Das Buch endet schließlich mit einem kurzen Kapitel, in dem die Bestattung des Bruders geschildert wird. Die Stimmung des ersten Kapitels kehrt zurück, wenngleich mit einer düsteren Botschaft: Der Selbstmörder ist ein Arbeitsverweigerer, jemand, der sich ausklingt und deswegen den zurückgebliebenen immer ein wenig suspekt ist. Wie der Koala bar, der aufgrund seiner biologischen Besonderheit ein Arbeitsverweigerer des Tierreiches ist? Kann es wirklich sein, dass der Autor das meint? Oder meint er überhaupt nichts und überlässt es dem Leser, seine Mutmaßungen über die Gemeinsamkeiten von Bruder und Koala anzustellen? Und macht er es sich damit nicht ein wenig zu einfach? Möglich, wer aber will, kann in dieser Arbeitsverweigerung von Seiten des Autors auch einen starken Impuls zum Selberdenken erkennen. So sah es jedenfalls die „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“, die dem Autor für dergleichen Werke den Georg Büchner Preis 2019 zuerkannte.