Barnes: Flauberts Papagei

Manche Literaturwissenschaftler, schreibt der Autor in dem vorliegenden Buch, verhalten sich ihren Objekten gegenüber gar zu gönnerhaft  Sie behandeln sie ein wenig wie Familienmitglieder und tun so, als sei Flaubert oder Milton oder Woodsworth irgendeine tüttelige alte Tante in einem Schaukelstuhl, die nach muffigen Puder riecht, nur der Vergangenheit nachhängt und seit Jahren nichts Neues gesagt hat.“ (S.89) Diese Haltung zu widerlegen, ist das Anliegen von Julian Barnes Erstling „Flauberts Papagei.“ In immer neuen Anläufen umkreist Mr. Braithwaite, ein sechzigjähriger und verwitweter englischer Flaubert-Enthusiast das Leben, des großen Romanciers, er besucht Rouen und Paris, reist durch die Normandie und studiert alle Briefwechsel und Werke der Flaubert-Epoche, ohne dass die Gedanken und Entdeckungen, die dabei zu Tage kommen, auch nur eine Sekunde langweilig wären. Stattdessen eröffnet sich dem staunenden Leser ein wahres Schatzkästchen der Literatur mit Antworten, Fragen, Anekdoten und Erzählungen, die in ihrer Summe nicht weniger ergeben als eine Schule des Lesens und Denkens – und der feinen Ironie, über die Barnes in ähnlich fein dosierter Weise verfügt wie sein Vorbild Flaubert. Was soll in einem Roman in den nächsten Jahren auf keinen Fall mehr beschrieben werden?  ( z. B.: die persönliche Erziehunsgeschichte, Morde unter der Dusche, Romane mit Hauptpersonen, die nur mit Initialen ausgewiesen werden. ) Welchen  Schriftstellern sind die peinlichsten Fehler unterlaufen? ( z. B. William Golding in HERR DER FLIEGEN, der seine Kinder ein Feuer mit einer Brille anzünden lässt, mit deren Glas das physikalisch unmöglich ist ). Soll der Erzähler in einem Roman “so sein wie Gott – allgegenwärtig, doch nirgendwo sichtbar“  – oder eher wie ein im Dunkeln tappender Ahnungsloser, der dem Leser erst nach und nach den  Sachverhalt enthüllt? Warum gibt es am Ende des Romans nicht kleine Briefchen, anhand deren Überschriften sich jeder Leser seinen Schluss („traditionell“, „willkürlich“, „modernistisch“, „deus ex machina“ etc.) selbst aussuchen und den Rest der
Briefchen vernichten kann? Hinter all diesen Fragen, die sich der wackere Braithwaite als  „Flauberts Papagei“ stellt, steht die gigantische Gestalt Flauberts, seine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, die in der Form, in der sie Barnes dem Leser präsentiert, plötzlich so erscheint, als sei sie eine große Lupe, mit der unsere eigene Epoche auf eine neue Weise zu verstehen sei. Übrigens: am 30. April 2006 jährt sich die Vollendung von „Madame Bovari“ zum ein hundertfünfzigsten Male.  Ein Grund mehr, das vorliegende Buch auch wie eine Einführung in Flaubert zu lesen und sich dann dem Meister noch einmal selbst zuzuwenden.

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