Barnes: Vom Ende einer Geschichte

Zu den reizvollsten Projekten der Romanliteratur gehört das Spiel mit der Vergangenheit. Einem Leser eine Geschichte nicht nur nach vorne, in die Zukunft hinein, zu erzählen sondern Im Laufe der Erzählung auch die Vergangenheit, also die Voraussetzung von Gegenwart und Zukunft, zu variieren, erfordert literarische Raffinesse und formale Meisterschaft. Julian Barnes hat in dem vorliegenden Buch sich an einem solchen Projekt versucht und wurde dafür mit dem Man Booker Preis geehrt. Wie hat er das gemacht?

Zunächst gliedert sich der vorliegende relativ kurze Roman in zwei Teile – auf den ersten siebzig Seiten erzählt der Protagonist Tony Webster seine Lebensgeschichte, im zweiten Teil wird diese Lebensgeschichte und insbesondere die Erinnerung an eine bestimmte Jugendphase so verändert,  dass sich grundsätzliche Fragen zur Konstruktion der Erinnerung stellen – bis sich am Ende eine überraschende Wende ergibt.

Tony Websters Leben, das im ersten Teil sehr gekonnt, fast glatt, auf siebzig Seiten dargestellt wird,  ist nichts Besonderes: Zunächst tritt er uns entgegen als Mitglied einer dreiköpfigen studentischen Freundesgruppe mit Colin und Alex, zu der als Vierter  der intellektuelle Adrian Finn hinzutritt, der als brillanter Geistesgigant innerhalb der Freundesgruppe schnell eine Sonderrolle einnimmt.  Sodann erleben wir Tonys Websters erste Liebe zu der prätentiösen Veronika Ford und ein peinlich-schamvolles Wochenende, das Tony als Gast der Familie Ford erlebt.  Nachdem sich Tony und Veronica getrennt haben, kommen Veronika und der hoch intellektuelle Finn zusammen, was Tony naturgemäß wenig gefällt, so dass er sich dazu sich dazu brieflich so launig äußert, dass der Kontakt zu Finn und Veronika ganz abbricht.

Schließlich birgt sich der intellektuelle Finn, wie es heißt: aus philosophischer Überzeugung um, was eine Reihe von Fragen aufwirft, die die drei Freunde noch ein letztes Mal zusammenführen, ohne dass sie zu einer bündigen Lösung gelangen.  Tonys weiteres Leben ist schnell erzählt: es führt ihn zu einer Ehe, einer Tochter, einer bescheidenen Karriere, einer Scheidung und schließlich zu einem beschaulichen, um nicht zu sagen: reichlich grauen Ruhestand.

Mir hat dieser erste Teil des Buches am besten gefallen – erzählt aus der imaginären Gegenwart des pensionierten Tony entfaltet sich ein konzentriertes und ungemein anschauliches Bild der Sechziger und Siebziger Jahre im Kontrast zu all den revolutionären Veränderungen, die sich bis heute im Alltag der Menschen ergeben haben. (Herrlich etwa in diesem Zusammenhang Tonys Reflexion über die Frage, was es in den Sechziger und heute für junge Leute bedeutet „zusammen zu gehen“.)

Erst im zweiten Teil des Buches wird das Hauptthema aufgerollt – die Konstruktionsgesetze  unserer Erinnerung, mit anderen Worten: ihre Unzuverlässigkeit, die mitunter dazu führt,  dass wir „das Ende einer Geschichte“ ganz anderes erinnern, als es wirklich gewesen ist. Denn im Zusammenhang mit einer kuriosen Erbschaft, die ihm Veronika Fords verstorbene Mutter zugesprochen hat, kommt es nach vierzig Jahren Unterbrechung zu einem erneuten Kontakt zwischen Tony und Veronika, wobei Tony einen extrem widerwärtigen und gemeinen Brief von sich selbst unter die Nase gerieben bekommt, der sein eigenes Verhalten gegenüber Finn und Veronika vollkommen anders darstellt. Dieser Brief überrascht auf vielfältige Weise:  zunächst überrascht er den Leser, der sich darüber wundert, wie man einen solchen Brief vergessen kann, dann überrascht der Brief innerhalb der Handlung Tony selbst, der den bösartigen Tenor des Briefes völlig „vergessen“ hatte und der nun – das ist die dritte Überraschung – nicht nur von Reue sondern von neuen Gefühlen für die vierzig Jahre ältere Veronika ergriffen wird (Allerdings hat auch Tony inzwischen eine Glatze). Was  die Jugendliebe Veronika in den letzen 40 Jahren getrieben hat, erfährt der Leser nicht, ihr

Verhalten ist zunächst rätselhaft und unerklärlich, führt aber über mehrere Zufälle zum Kontakt zu einem vierzigjährigen geistig behinderten Mann,  dessen Herkunft und Geschick Tony noch einmal mit der Vergangenheit konfrontiert und veranlasst, das Ende der Geschichte ( von ihm selbst, von Veronika, von Finn und von Veronikas Mutter ) neu zu sehen.

Die Einzelheiten dieser Neukonstruktion der Vergangenheit sind kompliziert und sollen hier nur angedeutet werden ( ACHTUNG: wer sich das Buch kaufen möchte – bitte hier die Lektüre der Rezension abbrechen!). Immerhin gelingt es Barnes diese Neukonstruktion schrittweise so zu gestalten, dass man wie bei einem Forschungsverfahren über eine Reihe von fehlerhaften Hypothesen schließlich zum Endergebnis gelangt. Zuerst steht die Erinnerung fest – der Protagonist hat sich nichts sonderlich Böses zuschulden kommen lassen. Dann erhält er seinen Brief und definiert sich selbst neu und zerknirscht als Drecksack und Mistkerl. Dann entdeckt Tony Webster als reuiger Drecksack einen geistig behinderten Mann, von dem er zuerst glaubt,  er sei der Sprössling Veronikas und Finns, was zu einer radikalen Neubewertung von Finns Selbstmord führt. Nun erscheint der philosophisch verbrämte Suicid plötzlich nicht mehr heldenhaft sondern als eine jämmerliche „Flucht vor dem Kinderwagen“. Schließlich endet die Recherche mit der Aufdeckung der überraschenden Rolle von Veronikas Mutter, was die Handlung wieder in eine neue, wenngleich nicht so eindeutige Beleuchtung stellt.

Am Ende bleibt nicht nur Tony Webster sondern auch der Leser ein wenig ratlos zurück. Man hat zweifellos ein gelungenes, teilweise brillantes Werk gelesen, und die schrittweise Implementierung einer neuen Vergangenheit ist dem Autor auf eine Weise geglückt, die einen bis zuletzt bei der Stange hält. Trotzdem kann ich in den uneingeschränkten Jubel, den alle Rezensenten des Feuilletons über dieses Werk angestimmt haben, nur beschränkt einstimmen, denn – um der Wahrheit die Ehre zu geben – je weiter das Buch voranschreitet, desto artifizieller erscheint die literarische Konstruktion, bis am Ende die „Lösung“ dann merkwürdigerweise mit Tony Webster gar nichts mehr zu tun hat.

Auf der anderen Seite – und darin liegt meiner Ansicht nach die Stärke des Buches – hat der Plot im Allgemeinen mit jedem Leser eine ganze Menge zu tun. Ich jedenfalls durchdachte nach der Lektüre noch einmal recht genau diese und jene Episode aus meiner Vergangenheit und fragte mich, ob ich mich wirklich immer so untadelig verhalten habe, wie es mir meine aktuelle Erinnerung suggeriert.

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